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Keine Laudatio

Am 14. September 2021 wurde im wunderschönen Wildermettpark im Osten Berns erstmals der Emma Graf Preis verliehen. Mit ihm werden Persönlichkeitenaus unterschiedlichen Generationen für besondere Verdienste in den Bereichen Partizipation und Mitwirkung im Stadtteil IV von Bern gewürdigt. Emma Graf setzte sich für Frauenrechte ein und war u.a. Präsidentin des Schweizerischen Lehrerinnenvereins, der im Wildermettpark das Heim für pensionierte Lehrerinnen baute (heute domicil).Preisträgerinnen sind Sabine Schärrer für ihr langjähriges Engagement im Bereich Quartierpartizipation und Renate Müller/Karin Rüfenacht als Initiantinnen und Co-Präsidentinnen des Vereins Träffer. Als Präsident der Jury führte ich Interviews mit den Preisträgerinnen und Weggefährt:innen, für Sabine Schärrer war meine Aufgabe, die Laudatio zu halten.

Liebe Sabine, liebe Anwesende

Eine Laudatio für Sabine Schärrer ist eigentlich gar nicht möglich, denn Sabine ist nicht eine Frau die sich zur Ruhe setzt und feiern lässt: kaum hätte man die Laudatio geschrieben, käme ihr nächstes Projekt oder die nächste Idee und man müsste die Laudatio wieder umschreiben.

Als ich Sabine erstmals über den Preis informierte, kam postwendend ein Link zu einem Interview in „Collage“, der Zeitschrift des Fachverbands Schweizer Raumplaner, in dem Sabine über Bodenrecht und Raumplanung spricht: „gerechte Planung“ ist utopischer und hochpolitischer Begriff – einfach mal so als Denkanstoss.

Als ich am letzten Wochenende dann die Moderation schrieb, erschien in der Quartierzeitung QuaVier grad zwei Texte von Sabine zu Integration und Vernetzung der Stadtteile – die nächsten Anregungen.

Kurz: Herzblut und politisches Engagement gehören zu Sabine Schärrer, sie ist unkonventionell, intelligent, viel zu lebendig für den Stadtrat, in dem wir kurz zusammen sassen. Sie hat immer ein Anstupf, wo man was noch machen könnte: KA-WE-DE, Punto natürlich, Elfenau in allen Varianten, Autobahnprojekt A6, Quartierorganisationen, nichts, bei dem nicht Sabine mit Anstössen und Ideen engagiert wäre.

Aber ich wäre auch überfordert von der inhaltlichen Dimension ihres Engagements für Partizipation. Das geht das weit über das Quartier hinaus. Da kann sie locker mal die Geschichte der Partizipation über 50 Jahre und drei Staatsebenen herleiten – wobei Sabine selbst und früher über ihre Eltern immer selbst beteiligt war: Die ersten Vorstösse zur Partizipation stammen von 1973. 1979 wird Mitwirkung im eidgenössischen Raumplanungsgesetz verankert, später auf Kantons- und erst im Jahre 2000 auf Stadtebene. Das Verständnis geht auch über einfache Mitwirkung hinaus: „Ich bin der Ansicht, der Westen Berns ist in jeder Hinsicht – städtebaulich, gesellschaftlich, politisch – zukunftsfähiger und langfristig robuster als der Osten, dessen städtebaulichen Strukturen die grundsätzlich ungerechte Verteilung der Ressourcen widerspiegeln: Privater Grundbesitz und eine Bauordnung, die kein verdichtetes Wohnen ermöglicht. Damit fehlen die genossenschaftlichen, gemeinnützigen oder städtischen Bauträger und öffentliche, gesellschaftlich integrierende Strukturen.“ Mal so kurz als prägnante Analyse im Journal B.

Sabine nimmt auch sonst kein Blatt vor den Mund. Sie findet das «Berner Modell» der institutionalisierten Zusammenarbeit von Quartierorganisationen mit der Stadt zukunftsweisend, dafür fehlt der Stadt Bern das Verständnis für Quartierzentren, das es eben auch braucht. Und es wäre nicht Sabine, wenn sie nicht Klartext redete: «Die finanzielle Ausstattung ist himmeltraurig.»

Bei Sabine wird sichtbar – und ich halte das für zentral: Partizipation ist kein Selbstzweck, wie man heute manchmal fast meinen könnte, es geht nicht um „mitreden“ oder ein „Gefühl“ der Beteiligung, sondern muss ernst gemeint sein: bessere Lösungen (ein Teil) im Interesse aller (zweiter Teil). Daran muss Partizipation gemessen werden, den Anspruch hat auch der Emma Graf Preis, um zukunftsweisende Entwicklungen der Partizipation und Demokratie im Quartier sichtbar zu machen.

Das einzige, was ich schliesslich von Herzen zu Sabine in einer Laudatio sagen könnte, weil wir uns schon viele Jahre kennen, wäre der aussergewöhnliche Aspekt, dass Sabine Schärrer als Persönlichkeit beeindruckend und gleichzeitig bescheiden, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb immer wieder auch ein Vorbild ist.

Sie ist nicht nur bescheiden, sondern auch gewissenhaft, so hat Sabine eine Dankesrede vorbereitet. Denn wie sie mir geschrieben hat: abgesehen vom Silber Abzeichen in der Grindelwalder Skischule anno 1958, als sie nichts sagen musste, sei das ihre erste Ehrung.

Thomas Göttin, 14.9.2021