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Wie liest man ein Manuskript?

Schon Tage vor der Eröffnung der Ausstellung wurden geheime Zeichen an Wände und Glasscheiben im Eingangsgebäude des BAFU gemalt, man wusste nicht recht: Handelt es sich um Menetekel upharsin – den Warnhinweis beim Gastmahl des Königs Belsazar? Oder um ein Kunstwerk von Beuys? Zum Glück war die Putzequipe darüber informiert, dass sie diese Zeichen nicht wegwischen soll im Sinne von "ist das Kunst oder kann das weg?".
 

Es handelt sich um "Manus script" - von Heidi Gassner von Hand geschriebene Zeichen, das ist  wunderbar in Zeiten der elektronischen Textproduktion. Ich bin diesen Manuskripten eng verbunden, habe ich doch mein Studium als Paläograf mit dem Entziffern von mittelalterlichen Handschriften verdient.  

Kürzlich hat ein wunderbares Manuscript aus dem 9. Jahrhundert meinen Weg gekreuzt, die Abschrift eines Textes des Eugippius. Dieser lebte von 465 bis 533, war ein Bekannter von Boethius und Cassiodor und hatte Zugang zur Bibliothek der römischen Adligen Proba. Ihm verdanken wir einzelne Texte von Augustin, der zwei Generationen vor ihm lebte, aus diesem einen Manuskript.

Ich möchte aber nicht nur über Manuskripte sprechen, sondern - weil Heidi Maria Glössner gleich noch Texte lesen wird - wie man solche Manuskripte gelesen hat.  

Bis ins 12. Jahrhundert war das Lesen von Manuskripten ein monastisches Murmeln. Die Manuskripte hatten ein Eigenleuchten, sie erleuchteten die Lesenden, welche in den Klöstern gut und gerne 150 Psalmen pro Woche heruntermurmeln mussten. Ein Lesen im heutigen Sinne war oft gar nicht möglich, da es lange gar keine Wortabstände gab – ein fortlaufender Buchstaben-Bandwurm lässt sich fast nur laut murmelnd entziffern.

Ab dem 12. Jahrhundert erfolgte parallel zur Entdeckung des Individuums der Übergang zum individuellen, scholastischen Lesen. Die Texte wurden nicht mehr nur gemurmelt, sondern gelesen und interpretiert. Die Manuskripte veränderten ihre Rolle und wurden - statt nur zu leuchten - zu einem Instrument, um die Welt zu beleuchten. In diese Zeit fällt auch Entdeckung, dass Buchstaben für mehr als eine Sprache verwendet werden können, dass also die lateinischen Buchstaben nicht nur Latein gebraucht werden können. Das war eine entscheidende Voraussetzung für die Erfindung des Buchdruck im europäischen Sinne. 

In der Ausstellung erscheint das „manus script“ nochmals in neuer Form als Kunst des Bildes und der Vorlesung in dem Moment, wo sich die Zeit der Manuskripte dem Ende zuneigt, wo Computer Texte in Daten verwandelt oder – mit noch viel weiter führenden Konsequenzen – die Computer Daten in geschriebene und gesprochene Texte verwandeln: Man denke nur an computergenerierte Reportagen oder die Präsenz der Apple-Stimme von Siri.