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"Als Pionierin habe ich mich nie gefühlt"

Ruth Hamm gehörte 1974 zu den ersten Frauen, die in den Grossen Rat gewählt wurden. Sie nimmt sofort das Telefon ab, und weil am nächsten Tag eine längere Abwesenheit bevor steht, sind wir unvermittelt im Gespräch. Nein, sie fühlte sich eigentlich nicht als Pionierin, als sie für die SP in den Grossen Rat gewählt wurde.

„Aber nachher habe ich schon gemerkt, dass wir zu den Pionierinnen gehörten. Durch die Presse, die Reaktion der anderen Parteien. Wir waren zehn Frauen auf 190 Männer.“ Als Tochter eines Fabrikarbeiters und aktiven Gewerkschafters hatte ein Arbeitskollege ihres Vaters ihr eines Tages vorgeschlagen, sie könne doch für den Grossen Rat kandidieren. Zuvor war sie schon aktiv im Gemeinderat von Bolligen gewesen mit linken und grünen Themen, die nicht unbedingt den traditionellen gewerkschaftlichen Anliegen entsprachen. Zur eigenen Überraschung wurde sie gewählt. Für die Grossrats-Sessionen konnte sie als Lehrerin eine Stellvertretung organisieren, und für die beiden kleinen Mädchen auf ihre Mutter zählen. „Schon nur eine Frau zu sein war damals etwas, das es anderen Frauen leichter machte. Viele Frauen sind zu mir gekommen und wollten wissen wie es mir in der Politik ergeht.“

Hindelbank

Vorbilder habe sie selbst auch nicht gehabt, sagt Ruth Hamm. „Gut, von der Geschichte her war mir Rosa Luxemburg ein Vorbild, ohne dass ich je dachte, ich würde wie sie.“ Zudem habe sie eng mit Marie Boehlen zusammen gearbeitet, welche mit ihr zusammen in den Grossen Rat gewählt wurde. Auch da habe sie unbequeme Themen aufgegriffen, etwa den Strafvollzug von Frauen. In Hindelbank kam es zum Todesfall einer Insassin - aufgrund eines Ärztefehlers, wie sich später herausstellte. Zusammen mit Mariella Mehr hatte sie über den Fall im Magazin des Tages-Anzeigers berichtet, das hatte ziemlichen Wirbel verursacht. Die Publizität habe sie nicht gestört: „Das muss raus“, war ihre Meinung. Einmal mehr dient Fredi Lerch als unerschöpfliche Quelle. Die Frauen in Hindelbank forderten später in einer Petition gleiche Rechte wie die Männer im Thorberg. Auch bei andern Themen oder Gesetzesvorlagen hat sie im Grossen Rat besonders auf die Auswirkungen für Frauen geachtet.

 „Gerechtigkeitsempfinden“

 Sich selbst hat sie nicht als Vorbild wahrgenommen. Was sie gemacht habe,  sei einfach normal gewesen. Die Mehrheit der SP-Kollegen habe sie unterstützt, und Marie Boehlen sei ihr immer zur Seite gestanden. Dass sie aus einer Fabrikarbeiter-Familie stamme, habe sie jedoch stark wahrgenommen. Das Einkommen sei nicht sehr hoch gewesen, und viele Kinder aus ihrem Bekanntenkreis hätten kaum in die Sekundarschule gehen können. Sie selbst wurden von den Lehrer gefördert und konnte das Seminar besuchen. Das Gymnasium war nicht möglich, weil ihr das Wissen in technischem Zeichnen und Algebra fehlte, da sie, wie viele Mädchen damals, in dieser Zeit Hauswirtschaftsunterricht hatte. So habe sie auch viele Themen aus dem Berufsumfeld aufgegriffen, etwa zur Chancengerechtigkeit in der Bildung. Auch beruflich hat sich Ruth Hamm in diesem Bereich engagiert, so als pädagogische Leiterin bei der Planung und Durchführung des Schulversuchs Bern-West. Welche Eigenschaften haben ihr für das Engagement besonders geholfen: „Eine gewisse Starrköpfigkeit, und von den Eltern habe ich ein gutes Gerechtigkeitsempfinden mitbekommen“.

Das Interview mit einer beeindruckend wachen und bescheidenen Zeitgenossin nähert sich dem Ende. Eine letzte Frage: Ob sie beobachte, dass das Thema „erste Frauen“ auch 50 Jahre nach dem Stimmrecht noch aktuell sei? Klar und rasch die Antwort: „Das nehme ich immer noch so wahr. Eine Frau nimmt das Telefon ab und wird gefragt: Können Sie mich mit dem Chef verbinden.“

8.7.2020