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Liebe auf den ersten Blick und letztes Lächeln

Liebe auf den ersten Blick und letztes Lächeln: Die Portraits von Raoul Ris umfassen die ganze Spannweite menschlicher Ausdruckweise. Die Portraitierten wiederum steuern vielfältige und eigenständige Texte bei. Diese einzigartige Konstellation eröffnet ein eindrückliches Kaleidoskop von Zeit und Raum, ausgehend einem kleinen Ort im Süden Frankreichs, Vingrau, und zwei kurzen Sommern, die Raoul Ris dort gelebt und gemalt hat.

Raoul Ris gibt dem Portrait, das lange mit dem zweifelhaften Ruf behaftet war, nichts als Selbstdarstellung der Elite zu sein, eine neue, politische Dimension. Er portraitiert die Menschen, welchen er in Vingrau begegnet ist, völlig unbesehen von Herkunft und sozialer Stellung, was weit mehr bedeutet als ein statistischer Durchschnitt oder eine demokratische Auswahl. Eine Gelegenheit für Begegnungen bieten ihm die Montag Abende, an welchen Raoul für eine grosse Gästeschar gekocht hat. Es galt die Regel: alle durften kommen, aber niemand durfte etwas mitbringen oder helfen, denn niemand sollte blossgestellt werden. Als Gast erlebte ich einen Abend, an welchem die Bilder eines nach dem andern hervorgeholt und diskutiert wurden: Eine gleichberechtigte, durchaus laute und wunderbar utopische Diskussion zwischen Portraitierten und Portraits sozusagen.

Die Portraits zeugen von einer grossen Vielfalt an Lebensentwürfen, vom Stolz der Menschen und von der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit sich selbst. Das zeigt sich auch in den Texten. Momo - aus Marokko stammend aber seit 40 Jahren in Frankreich lebend -  ergänzt sein Portrait mit der lakonischen Bemerkung, die französischen Gesetze seien nicht als die schöne Schminke einer Frau. Und die 16 jährige Leyla führt weit aus dem Bild hinaus mit ihrem kurzen Text über die Liebe: „Enfin j’eus l’occasion de me perdre dans les abysses de tes yeux“, „endlich konnte ich mich in den Tiefen des Meeres deiner Augen verlieren“.

Selbst verkauft und an einer unbekannten Wand hängend, sind die Portraits weder eingefroren, noch zementieren sie Macht oder Unterwerfung, ja sie sind nicht einmal fertig: Sie halten nur zufälligerweise einen Moment jener Zeit-Landschaften fest, die sich in den Gesichtern spiegeln, und die Texte verweisen darüber hinaus in die Zukunft. So entsteht jenes schwebende „viel-leicht“, welches Raoul Ris seinem Buch als Titel mitgibt, und die Dynamik entwickelt sich weiter im Auge der Betrachtenden – bis zu Luckys letztem Lächeln vor dem Tod, einem der wenigen Bilder, die nicht in Vingrau entstanden sind, das aber mit ein Auslöser für Raoul Ris Portait-Serie darstellt.

Mittendrin findet sich ein buntes Glossar zu Geschichten und zur europäischen Geschichte, die sich in der Gegend von Vingrau genauso spiegelt: In Richtung Meer liegt Rivesaltes. Hier befindet sich das grösste Internierungslager Westeuropas, le camp de France. Auf die höchsten Hügelspitzen entrückt sind die katharischen Burgen des Mittelalters. Und in Tautavel, dem Nachbardorf liegen unter sanften Hügelkuppen jene Höhlen, in welchen vor 450‘000 Jahren die ältesten Menschen Europas lebten.

Auch die Bilder aus dem Ort selbst mit seinen 600 Einwohnern erzählen ihre Geschichten: Rue de la Revolution, de la Victoire, Emile Zola. Dazu steuert Thierry ein katalanisches Wörterbuch bei, denn Vingrau liegt zwar noch in Frankreich, versteht sich aber als katalanisches Dorf. Und Miró badet im Meer bei Portbou, dem geschichtsträchtigen Grenzort auf spanischer Seite, und freut sich über die Unbeschwertheit seiner Jugend. Hier blitzt es unübersehbar auf, dieses Motiv unterhalb der Oberfläche, das Raoul zum Malen bewegt und all seine Bilder begleitet, und das er einmal so formuliert hat: „Die Unheimlichkeit der Zuneigung zur Welt.“

Vorwort zum Buch "peut être très facile - viel leicht kann sein" Bilder Vingrau Raoul Ris 2019

29. November 2019