Bümpliz ist älter als die Schweiz
Liebe Eidgenossinnen und Eidgenossen
von Bümpliz, Bethlehem, Oberbottigen, Stöckacker und von überall
Diese Einladung nach Bümpliz zur 1. August-Rede 2015 ist eine Ehre für mich. Ich habe mit Schwung mit der Vorbereitung begonnen, kurz einen Stopp eingelegt als Feuerverbot und Absage kamen, und freue mich deshalb doppelt, dass dieser Geburtstag doch statt findet. Und ich erst noch an diesem Rednerpult stehen darf, das vorher ein Bett war, wie ich erfahren habe. Was aus einem Bett noch alles werden kann!
Bümpliz ist viel älter als die Schweiz. Vor 1000 Jahren hat man von Bümpliz das erste Mal gelesen. Nächstes Jahr feiern wir das im Rahmen des Stadtfestes. Damals gehörte die Gegend zu Burgund. Wölfe, Bären und Wisente trieben sich umher. Die Aare war eine wilde Flusslandschaft voll Fliegen und Mücken, rundherum viel Wald. Die Leute sprachen althochdeutsch, fast noch englisch, und von Bern noch keine Spur.
Die Gründung von der Eidgenossenschaft – die heute doch auch schon über siebenhundert Jahre alt ist – liegt aus der Sicht von den damaligen Bümplizer noch unvorstellbar weit in der Zukunft: Dass die Innerschweizer den Habsburgern einmal Baumstämme um die Ohren schmeissen werden, wer hätte sich das vor 1000 Jahren können denken, es gab noch keine Habsburger und erst recht keine Schweizer.
Dreihundert Jahre ging es dann noch bis Morgarten. Das ist reine science fiction, wie wenn wir uns vorstellen würden, wie die Welt im Jahre 2315 aussieht: Ein Leben im elektronischen Hyperspace, Mensch-Maschine Wesen in einer künstlicher Natur, neue Königtümern oder Eidgenossenschaften, Privatraumschiffen auf fremden Planeten, das kann sich jeder selber ausmalen.
Was uns als altehrwürdige Tradition erscheint, kommt immer auf die Zeitspanne, die wir überblicken, und den eigenen Standpunkt an. Die Schweizer Fahne - es geht nach Morgarten noch lange, bis sie wirklich eine Rolle spielt. Die erste offizielle Schweizer Fahne war übrigens nicht das weisse Kreuz auf rotem Grund, sondern in der Helvetik eine Trikolore in den Farben grün, rot, gelb, fast im Stile der panafrikanischen Farben. Seit1841 ist es offiziell die heutige Schweizer Fahne.
Bei der Nationalhymne ist die ehrwürdige Tradition noch kürzer: erst seit 1981 ist sie die offizielle Hymne von der Schweiz – das ist grade mal 15 Jahre vor W.Nuss vo Bümpliz, was am Gurtenfestival Tausende mitgesungen haben.
Traditionen sind wichtig. Wichtig für die Identität, die uns hilft, uns in der Realität zurecht zu finden. Und weil die Realität dauernd ändert, setzt sich unsere Identität auch immer wieder neu zusammen, und damit wandeln sich auch die Traditionen. Nur merkt man das manchmal gar nicht, weil es langsam geht. Darum braucht es die Geschichte, die längere Zeiträume überblickt und diese Veränderungen verständlich und sichtbar macht. Und Feiern wie der 1. August, wo man sich das auch wieder einmal überlegt.
Traditionen – in Form von Mythen und Symbole - helfen, Gräben zu überwinden. Die Schweiz ist, seit sie entstanden ist, dauernd damit beschäftigt, Gräben zuzuschaufeln: zwischen Stadt und Land, und arm und reich schon im Mittelalter, später zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Deutschschweiz, Tessin und suisse romande, zwischen der Schweiz und Europa. Das ist nicht immer gelungen, es gab den Alten Zürichkrieg, den Bauernaufstand in Bern und Luzern, den Generalstreik, immer wieder Lämpen. Aber wenn die Schweiz Bestand hat, dann weil die Politik des Brückenbaus und die Politik des Ausgleichs immer wieder gelungen ist.
Heute macht eine Partei den Eindruck, dass es ihr gerade recht ist, wenn die Gräben tiefer werden. Sie will keinen soziale Verständigung, keine Integration, keine Rolle der Schweiz in Europa. Sie will nicht Ausgleich, sondern Macht – im Interesse der Reichsten, die sich häufig auf ländliche Inseln zurückgezogen haben, Steuerinseln, rundherum ein tiefer Wassergraben.
Sie macht das, indem sie den Traditionen ihre Geschichte abspricht und sie zu ewigen Wahrheiten erklärt. Es ist der Versuch, sich selbst und die Gesellschaft gegen Veränderungen zu stemmen, womit man sich oder uns allen die eigene Zukunft nimmt.
Was das konkret bedeutet, kann man in dem Kanton sehen, in dem ich aufgewachsen bin, im Kanton Baselland. Der war einmal fortschrittlich und glaubte an seine Zukunft. Im Moment will die politische Mehrheit dort vor allem weniger Geld für die Bildung, grössere Schulklassen, mehr Frontalunterricht, weniger Geld für die Universität. Sie will weniger Staat, vierhundert Stellen sollen gestrichen werden. Sie will weniger Kultur, Budgets werden um die Hälfte gestrichen, Dorfvereine sollen in die Lücke springen. Dafür gibt es Strassen in Luxusausführung. Ein Projekt für 1,8 Milliarden ist gerade bewilligt worden.
Ich habe mich gefragt, wie steht es eigentlich mit der Identität von Bümpliz, so tausend Jahre nach der ersten Urkunde. Häufig fahre ich am Samstag quer durch Bern von Ost nach West. Im Tscharni hat unsere Parlamentsband des Stadtrats, Fraktionszwang, in der ich Saxophon spiele, den Übungskeller. Seit dem Tram Bern West steige ich im Egghölzli in den 8er und fahre bis Tscharnergut. Dann überlege ich manchmal, was ist wohl Selbstverständnis, und was ist Zuschreibung von aussen: Denn was die anderen sagen, ist meistens bekannter als was man selber empfindet – und häufig übernimmt man das als Teil der Identität, sogar wenn es negativ ist. Ich nehme darum den Text jemandem, der im Tscharni aufgewachen ist: Daniel Menna hat kürzlich in seinem Blog geschrieben:
Ich komme nicht aus Bümpliz. Nein. Es ist viel schlimmer. Ich komme aus Bethlehem. Eigentlich komme ich nicht einmal aus Bethlehem. Sondern aus dem Tscharnergut. Dem Tscharni. Das ist dann Ghetto, Mann. Aber dann sowas von. Betonwüste. Trist. Perspektivlos.
Währenddessen geniesse ich die Erinnerungen an meine Kindheit im Tscharni. Daran, dass ich nie auch nur eine Strasse überqueren musste, um zur Schule zu gehen. Rasen. So viel Rasen, dass das ganze Quartier grün roch, wenn der Rasen frisch gemäht worden war. Ach ja, im Winter dann der Schlittehoger. Extra angelegt. Für uns. Für die Kinder.
Auf dem Dorfplatz dann der grosse sechseckig angelegte Brunnen. Mitten im Brunnen der hohe Glockenturm, der immer mal wieder eine schöne Weise anstimmte. Ja. Mozart. Klaviersonate in A-Dur KV. 331. 1. Satz. Erste paar Takte. Zum Beispiel.
Wenn ihr Bümpliz hört, dann denkt ihr an Ghetto, an Beton, an den Pöbel.
Wenn ich Bümpliz höre, denke ich an ein Paradies für Kinder.
Wie seht ihr das: Ghetto? Paradies? Oder Beides? Oder keines von beidem?
Wenn ich Tscharni höre, dann denke ich daran, dass ich im Bandraum üben sollte.
Vielleicht haben wir nachher noch Zeit zum Diskutieren.
Ich wünsche mir auf alle Fälle mehr Selbstbewusstsein im Westen. Der Stadtteil ist grösser und bedeutender als die meisten denken. So habe ich zum Beispiel dank Bümpliz eine Wette gewonnen: Es ging um die Frage, wer mehr Einwohner hat, der Stadtteil VI oder der Kantone Appenzell Innerrhoden. Mein Appenzeller Freund gezögerte, weil ja auch Bethlehem viele Hochhäusern hat, da schlug ich ihm vor: Bümpliz ohne alles ist grösser als Appenzell Innerrhoden. Er nahm die Wette a - und ich gewann den Wein. Der Stadtteil VI ist übrigens fast gleich gross wie die Kantone Uri, Glarus oder Obwalden – ich wünschte mir, mit ähnlichem politischem Gewicht. Der Stadtteil ist grösser als Städte wie Zug, Solothurn oder Aarau und etwa gleich gross wie Neuenburg, Fribourg oder Chur.
Es ist ein Stadtteil im Wandel, im Aufbruch. In meinen zwölf Jahren als Stadtrat habe ich erlebt, wie viel neues entstanden ist: westside, die HKB, die heute über Bern hinausstrahlt, neue Plätze und Quartiere, mit Burgunder die erste autofreie Siedlung, mit dem Tram eine viel bessere Anbindung ans Zentrum und vielleicht bald einmal der erste Naturerlebnispark im Gäbelbach.
Der Stadtteil VI hat eine aktive Quartierorganisation. Eine neue Studie – keine Rede ohne Studie! - hat gezeigt, dass nicht nur in kleinen Gemeinden, sondern auch in grossen Städten die Zusammenarbeit zwischen professioneller Verwaltung und Freiwilligen, welche sich im Quartier engagieren, intensiv gepflegt wird und wichtig ist. Das ist ein grosser Trumpf in der Schweiz, und die Quartierorganisationen sind ein zentraler Bestandteil, um den uns die andern Städte beneiden.
Schräg in der Landschaft, genauer gesagt in Riedbach steht allerdings im Moment das Projekt der BLS: zuerst wegen eben der Landschaft, dem Thema Landschaftsschutz, dann auch wegen dem fehlenden Einbezug des Quartiers. Immerhin gibt es auf Druck vom Kanton jetzt eine Begleitgruppe. Aber ein zusätzliches Problem in Bern ist die Konkurrenz der Bahnen: SBB, BLS; RBS, Bern-Mobil, jeder plant für sich, Werkstätten, Linien und Bahnhöfe. Da gibt es bessere Lösungen.
Was im Westen die Bahn, ist bei uns im Osten die Autobahn. Die fährt im Ostring quer durchs Quartier, und die Wohnungen auf beiden Seiten sind besonders stark mit Lärm belastet. Seit Jahren sind wir mit Lärmschutz und Quartieraufwertung keinen Schritt vorangekommen. Auch da gibt es bessere Lösungen. Man muss nur wollen.
Jetzt bin ich im politischen Alltag gelandet. Ein gutes Zeichen. Denn die Beschäftigung mit Politik setzt den Glauben an die Zukunft voraus. Ich wünsche mir, dass wir eine Zukunft vor Augen haben, in der es Wert ist, dass man sich dafür einsetzt, in der man die Brücken sieht, nicht nur die Gräben, und in der man den Ausgleich sucht und finden kann.
Es muss ja nicht grad eine Zukunftsvision für dreihundert Jahre sein. Die Bümplizer vor tausend Jahre konnten sich ja auch nicht vorstellen, dass es einmal eine Schweiz, Eidgenossenschaft gibt. Aber dass wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bessere Lösungen finden, sei es für die BLS-Werkstätten oder den Autobahn-Lärmschutz, das wir das Verhältnis unter den Agglomerationsgemeinden verbessern, Bildung und Integration für alle voranbringen und einen Ausgleich mit Europa finden: das kann ich mir schon vorstellen.
Und ich freue mich auch, wenn sich die Traditionen, die Mythen und Symbole mit uns verändern, lebendig bleiben, und uns auch in Zukunft – und auf der Höhe der Zeit – begleiten. Da passt im nächsten Jahr das Stadtfest, das ja nicht nur 1000 Jahre Bümpliz feiert, sondern auch im Zeichen der Brücken steht. Bern ist eine Brückenstadt – Brücken überwinden nicht nur Gräben, sie sind auch ein Zeichen vom Aufbruch. Ich freue mich auf das Stadtfest, auf Gemeinsamkeiten, Überraschungen und auf neue Ansätze bei alten Traditionen. Zum Beispiel, wenn es im Rahmen vom Stadtfest ein kleines Festival für Volksmusik gäbe, denn da gibt es so viel Neues und spannendes zum hören und entdecken.
Traditionen sind immer in Bewegung. Musik ist ein gutes Beispiel. Im Moment sind ja auch neue Varianten der Nationalhymne in Diskussion. Natürlich kann man sich lustig machen über die neuen Texte. Man kann auch behaupten, dass der alte Text unantastbar und der beste sei. Das wird sicher noch lang gehen, wird hin und her diskutiert, bis – wenn überhaupt - eine neue Fassung vorliegt. Typisch Schweiz, könnte man sagen, das ist ok, solange man sich irgendwann einig wird. Und wer weiss was in dreihundert Jahren ist. Vielleicht singen dann alle Venus von Bümpliz.