Brachland der Seele
Die Einführung zur Ausstellung "le terrain vague de l'âme" von Raoul Ris im Weissenstein-Park, der zum Kocherhaus an der Weissensteinstrasse 57 gehört, hielt ich im Dialog mit der Saxophonistin Araxi Karnusian - ihre Notizen zu den Sax-Improvisationen sind im Text kursiv.
Es ist wunderschön: so viele Gäste live hier, die ersten warmen Sommerabende, kein livestream, kein Zoom, und weil alle sitzen sieht es fast aus wie ein Sitzstreik für Kunst oder ein Happening.
Mein Name ist Thomas Göttin, ich werde etwas zur Einführung sagen, im Dialog mit der Saxophonistin Araxi Karnusian – du wirst anschliessend übernehmen, wenn es um die Musik und Lesung geht.
Wir befinden uns in einem verborgenen Park. Im Frühling blühten Kirsch- und Apfelbäume, man hört de Mönchsgrasmücken und Zaunkönige. Der Teich wird von einer eigenen Quelle gespiesen. Beim Eingang steht ein alter Grenzstein zwischen Bern und Köniz, die beiden Orte trennen ja eine über tausendjährige gemeinsame Geschichte. Es ist der Weissenstein, der dem Quartier den Namen gibt. Das Landgut selbst diente früher dem Heuhandel mit ein Heulager für Pferede, die Lindenallee erstreckte sich bis zur Schwarzenburgerstrasse. Haus und Park sind ein wunderbarer, unbestimmter Ort zwischen Halt und Aufbruch, eine Art terrain vague, Brachland, der perfekte Ort für diese Ausstellung. Ein Dank an Yvonne Moore und Mat Callahan, die hier wohnen, an Christine Brassel die hier wohnt und für das wunderbare Essen zuständig ist und an Jean Alazet aus Vingrau in Südfrankreich, von dem - einmal mehr - der Naturwein stammt. Jean und Jeanne aus Vingrau sind heute hier. Diese Ausstellung hat eine längere Geschichte, der Termin wurde verschoben, der Ort gewechselt. Der Park hat keine Wände, also waren 53 Holzgestelle zu schreinern und das Wetter musste mitspielen. Es bleibt ein schwieriges Jahr für alle die freischaffend arbeiten und beispielsweise von Bildern leben. Deshalb: kauft Bilder. Tut es einfach! Die Ausstellung findet nur heute statt. Wendet euch an Raoul oder an Karin Aeberhard. Und umso mehr - geniessen wir den wunderbaren Abend, den Park und die Bilder beim natürlichen Licht.
Le Terrain vague de l’âme – besteht aus zwei Sprachbildern: terrain vague, das Brachland, verbunden mit der vague de l’âme, da drin steckt die Welle und die Seele, der Blues, für mich die Sehnsucht. Die Verbindung stammt von Raoul und eröffnet eine ganze Welt. Brachland, erfüllt mit Sehnsucht.
Araxi Karnusian, Saxophon: Nach Terrain Vague - Vague de l’ame, mit Sehnsucht (Seele) erfülltes Brachlan, ein paar wenige Töne, die durch den Park schweben und Sehnsucht symbolisieren
Mit Sehnsucht erfülltes Brachland. Wie die Schützenmatte, die Raoul im Journal B beschrieben hat: „Die Schützenmatte ist Ankunft- oder Abreiseort in andere Länder für Cars und Autos, ist Chilbi und Schaustellerei mit Bahnen, Lichtern und Düften in die Nacht, launischer Treffpunkt, wetteroffenes Spielfeld, ist energiegeladen und Oase in einer fast zu Ende gedachten Stadt.“ Und weiter:
„Alle Räume werden zugedeckt und ersticken in unserem Bestreben, sie besser und schöner zu machen als sie sind. Besser und schöner heisst effizienter für Wirtschaft, Verkehr, Kultur oder Kinder, weil wir magnetisch angezogen werden vom Möglichen, vom Machbaren. Aber mit der so sehr angestrebten Umsetzung in welche Richtung auch immer verschwindet nicht nur der wirkliche Raum, sondern auch seine Möglichkeit, Möglichkeit zu bleiben.“ Brachland als eine Idee ohne Umsetzung, weil wir bei der Umsetzung alle andern Ideen aufgeben müssten.
Und dann malt Raoul nackte Menschen, Menschen über fünfzig, weit ab vom gängigen Schönheitsideal. Einige Modelle sind anwesend, die Bilder stehen in Gruppen etwas versteckt in den Park-Lichtungen. Der Körper als Terrain vague de l’âme – wo nicht nur die Sehnsucht, sondern mehr noch die Seele sichtbar wird. Der Körper als ein mit Seele erfülltes Brachland. Mit dem Alter furchiger, wird der Abdruck der Seele sichtbarer. Die Haut ist Grenze zwischen Menschen und der Aussenwelt, und einzige Möglichkeit, wie man die Seele malen kann – oder mit dem Pinsel zeichnen, wie Raoul seine Arbeitsweise beschreibt. Sein Projekt ist ein malerisches und wahrlich ein kommerzielles Abenteuer, dafür zeugt es von Menschlichkeit und Aktualität.
Zur Menschlichkeit schrieb bereits der römische Dichter Ovid: „Zeit befreit von jeglichem Makel unseren Körper“ – nämlich dann wenn man den Körper der Liebe widmet. Im Alter erst recht sollten die Menschen die Weisheit besitzen, dass der Liebesdienst die bessere Beschäftigung als Kriegsdienst sei, sagte Ovid – worauf Kaiser Augustus ihn prompt aus Rom verbannte.
Araxi Karnusian: Nach Ovid, ars amatoria, das Sehnsuchtsmotiv wieder aufnehmen und dazu - ineinandergeschachtelt - die Hektik, den Lärm der Strasse und des Krieges antönen
Über die Aktualität von Seele kann ich nur unter Vorbehalt sprechen: ich bin konfessionslos, aber noch 2019 war für die Zürcher Regierung absolut klar: Seele sei ein religiöses Konzept und nichts für Konfessionslose. Das hat etwas: Religionen haben ja gerade das Ziel, die Seele - und die Sehnsucht - zu kontrollieren. Nur das Licht Gottes, das im Mittelalter durch die Kathedrale auf die Gläubigen fällt, konnte die sündigen Körper bis zur Seele durchdringen. Auf die Suchenden und Zweifelnden fällt kein Licht.
Aber auch mit der Aufklärung und der individuellen Seele wurde es nicht besser: Zu viele Menschen haben andere umgebracht oder versklavt mit der Gewissheit, deren Seelen seien weniger wert. Die Vorstellung einer individuell bestimmbaren Seele, die man in letzter Konsequenz sogar irgendwie wägen könnte, ist deshalb genau so eine Sackgasse. Immer wieder ist es das Fertige, Gebaute, das dem vorläufigen, dem Brachland, die Seele raubt.
Und heute - können uns Maschinen die Seele rauben? Oder sie zumindest kopieren? Wo sitzt die Seele der Grossmutter, wenn sie in einem Pflegheim im japanischen Aichi lebt und als Tele-Roboter an der Hochzeit ihres Enkels teilnimmt und er sie – oder den Roboter – küsst? –Wem applaudieren wir, wenn ein Roboter anstelle des Schauspielers den Theaterabend bestreitet wie kürzlich am Auawirleben-Festival in Bern? Was passiert wenn sich Menschen über Elektroden ans Internet der Abilities anschliessen und Klavier spielen? Sind menschliche Gefühle etwas einzigartiges, sind es Menschen, und wie behalten wir unsere Rechte, unsere Würde?
Wir haben in der Vorbereitung der Ausstellung viel über solche Fragen diskutiert, jeweils am Sonntag Abend bei Raoul. Ihn haben die Diskussionen sehr beschäftigt, auch unsere Differenzen bei Corona, weil er sagt: Das Du ist wichtig, dafür malt man, und deshalb muss man es spüren. Nicht so wie der Maler Max Gubler, der den Draht zum Gegenüber irgendwann verloren hat und in der Psychi landete.
Raoul hat auch einen Fragebogen verschickt mit Fragen zur Malerei, einige von euch haben ihn vielleicht erhalten. Darunter die letzte Frage, Nr. 68: „Haben ein Bild, ein Musikstück, ein Text einen Sinn, auch wenn sie von keinem Menschen gesehen, gehört oder gelesen werden?“ 59% antworten mit Ja, 31% mit Nein.
Ein Nein für die menschliche Seele: Ohne Gegenüber kein Malen.
Ohne zumindest zwei Menschen keine Seele.
Anstelle von Religion, Egoismus und Maschinen sollten wir uns diesen menschlichen, verbindenden Zugang zur Seele offen halten. Auch Stimme und Musik öffnen den Zugang zur einer Seele welche Menschen verbindet, meinte Araxi an einem Abend. Du hast mich sehr berührt mit dieser Vorstellung, die vague de l’âme, die Seelenwelle, die sich zwischen den Menschen bewegt.
Araxi Karnusian: nach Gemeinsame Seele Wellenartiges, dichtes Spiel
So sind wir auch mit anderen beseelten Wesen verbunden: König Salomon konnte mit Tieren reden, Franziskus konnte es. Auch dazu gibt es aus Raouls Fragebogen eine Frage: „Wenn das Wort «Schönheit» an unsere Emotionalität geknüpft ist, kann ein Tier einen Sonnenuntergang als schön empfinden?“ 47% antworten mit Ja, 30% mit Nein. Vielleicht werden wir die Tiere eines Tages bald fragen können: Deep learning Projekte wollen die Kommunikation zwischen Tieren entschlüsseln, ohne auf der menschlichen Sprache aufzubauen. Der Austausch zwischen Mensch und Tier könnte über das „interspecies internet“ geschehen, das bereits im Aufbau ist. Überhaupt bestehen die meisten Organismen, auch wir Menschen, aus mehr Zellen von andern Lebewesen als unseren eigenen. So wird der Begriff des Individuums, des im Wortsinn Unteilbaren, offensichtlich langsam unpassend.
Wenn uns diese Seelen- und Sehnsuchtswelle verbindet, dann geht das nur mit Gleichberechtigung unter den Menschen und Achtung gegenüber Tieren und Pflanzen. Mit Dominanz und Herrschaft ist das nicht vereinbar. Praktischerweise verlegen Herrscher ja die Erlösung der Seele immer ins Jenseits zu den Toten. Mir sind der nackte Kaiser, der nackte Körper und überhaupt die Seelen der Lebenden lieber – und damit auch die Demokratie mit aller Vorläufigkeit und Unberechenbarkeit ihrer Entscheide, solange sie nicht den Anspruch aufgibt, vorerst einmal möglichst alle Menschen zu beteiligen.
Ja lieber Raoul, herzlichen Dank für deine Bilder, deine Sprachbilder, sie erweitern das Schauen und Denken. Und du bist schon bei einem weiteren Sprachbild – der peau de l’eau, der Haut und Oberfläche des Wassers, und den nächsten Bildern: Diese lebendigen Wasser vor dem Hintergrund der Bäume und Sträucher, ein Spiel von Licht und Schatten, als würden sie sich austauschen. Vielleicht ist es überhaupt eher eine durchlässige Membran statt Haut die uns, genauso wie Musik, mehr verbindet als trennt. Man kann sie berühren und sich berühren lassen. Nackt ist man verletzlich und schutzlos und gleichzeitig in einem offenen Raum. Das war auch meine Erfahrung als Portraitierter: Für das Foto der Vorlage stehe ich in die Sonne – wie wenn das mit den heutigen Fotoapparaten noch nötig wäre, ich blinzle wie ein Sünder und Zweifler – und erhalte das im gemeinsam erfahrbaren Raum von dir gemalt und mit-geteilt.
Der beseelte Körper als ein Brachland der Möglichkeiten, der sich nicht nur über die Zeit, sondern auch im Raum und in Bezug zu unserer Umwelt verändert. Davon berichtet das Terrain vague de l’âme.
Araxi Karnusian... und nach deiner Rede übernehme ich das Sehnsuchtmotiv und leite in unser erstes Stück.