
Der Sessel im Schwimmbecken
Worte werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun – und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da (Victor Klemperer).
Der Sessel ist gepolstert wie die Stühle im Berner Rathaus. Ich sitze bequem auf dem roten Polster, die Arme auf den Lehnen, und betrachte das Bundeshaus. Der Sessel gleitet sanft und leicht nach hinten geneigt durch das Schwimmbecken, die Stuhlbeine sind schon vom Wasser benetzt, meine Füsse schaukeln trocken in der Luft. Kurz wundere ich mich: Sehe ich die Südfassade des Bundeshauses, oder bin ich nicht doch auf dem Bundesplatz, und woher stammt denn all das Wasser? Im Winter gab es hier höchstens eine Eisbahn, aber nie im Sommer ein Schwimmbecken.
Ich höre Stimmengewirr, zusammengesetzt aus unzähligen Reden. Vielleicht steht im Bundeshaus ein Fenster offen, und Wörter wehen herüber. Ein Murmeln und Wispern, das mich wie ein kühler Windhauch umspielt. Es sind Wörter aus dem politischen Alltag, rasch dahergesprochen, sie klimpern wie kleine Münzen in der Kasse: Sparprogramm, Schuldenbremse, Scheininvalide. Es gibt unterschiedliche Währungen: sozialverträglich, nachhaltig. Zwischendurch grössere Scheine: Privatinitiative, den Gürtel enger schnallen. Und gestanzte Satzteile: «wir müssen uns fit machen für den Wettbewerb», «wir können die Rentner nicht auf Kosten der kommenden Generationen bevorzugen». Ich kenne die Wörter aus dem Berner Stadtparlament. Seit zehn Jahren sitze ich dort am Donnerstagabend auf Sitzplatz 145. Aber je länger ich sie höre, desto weniger verstehe ich sie. Durch den jahrelangen Gebrauch klingen sie wohltuend vertraut, an Ecken und Kanten abgeschliffen, harmlos und selbstverständlich. Es sind Vokabeln einer Wirtschaftswelt, die sich langsam und unmerklich in die Gesellschaft ausgebreitet haben. Weil sie allgemein und verständlich klingen, verströmen sie das Gefühl eines beruhigenden und vollständigen Bildes dieser Gesellschaft, ganz unabhängig davon, wie dramatisch sich diese in den letzten Jahren gewandelt hat.
Es ist kühl. Eigentlich meine ich warm zu haben, ich sitze in der Badehose auf dem Polsterstuhl. Doch mich fröstelt, jetzt wo die Füsse bald das Wasser berühren. Mein Blick wechselt vom Bundeshaus zum Rand des Schwimmbeckens mit den Sprungpodesten und den schwarzen Schlitzen des Überlaufes, die das Wasser verschlingen. Das Wasser ist spiegelglatt und glasklar, von keiner noch so kleinen Bewegung gestört. Es hat eine unwirklich blaue Farbe.
Noch hält das Netz, das mich trägt. Wenn es reisst, werde ich mitsamt dem Sessel bleischwer auf den Grund sinken. Dabei wünschte ich mir, der eine oder andere Politiker fiele ins Wasser, platsch, beim Verlassen des Bundeshauses, mit der Mappe unter dem Arm, gerade mit einem Fraktionskollegen in ein Gespräch vertieft. Sein Gesprächspartner sähe das Unheil kommen, stiesse einen Schrei aus, «jesses!», hielte sich die Hand vors Gesicht, könnte aber nichts mehr unternehmen. Das kalte Wasser würde einen heilsamen Schock auslösen, und der klitschnasse Politiker würde die Welt mit andern Augen sehen. Gerade so, wie wir gehofft hatten, der Zusammenbruch der Banken hätte diese Wirkung. Aber er wird nur unbeschwert auf den Bundesplatz treten, beim Weiterdiskutieren kurz um sich schauen und allenfalls freundlich fragen: «Grüezi, sueched Sie öbbis?»
Wer ruft sie mir zu, diese Wörter? Sprich, damit ich dich sehe, sagte einst Sokrates. Aber ich sehe und spüre niemanden. Kann ich zumindest darauf vertrauen, dass, würden wir uns sehen, wir der Welt mit ähnlichen Gefühlen begegnen würden? Weshalb hat es eigentlich ausser mir keine Leute im Bad? Nicht einmal hinter der kleinen Buchshecke liegen Menschen an der Sonne – falls die Sonne scheinen sollte. Ich bin unsicher, ob unter mir tatsächlich Wasser ist, oder vielleicht eine gelartige, durchsichtige Masse, welche die Stuhlbeine sanft umfasst und immer stärker aufnimmt. Ich sehne mich nach jemandem, mit dem ich sprechen kann, der mir etwas zuruft, das ich verstehen kann: «He Sie, was machen Sie da mit dem Sessel im Schwimmbecken?», oder «Ist bei Ihnen alles ok?», ja selbst «Das ist verboten!». Der Badewärter, oder ein paar Kinder. Die waren doch immer da auf dem Bundesplatz, und plantschten in den Fontänen des Wasserspiels. Erwachsene standen drum herum, lachten und hatten für einmal nichts zu tun. Ich rudere mit den Armen, aber damit drohe ich nur das Gleichgewicht zu verlieren, und sinke noch weiter ins Wasser, das mir schon bis zu den Knien reicht.