Bocksprünge mit der Realität
Im Bund vom 4.2.2012 schrieb Chefredaktor Arthur Vogel einen wie ich meine fragwürdigen Leitartikel zur städtischen Lohnpolitik. Meine Replik ist im Bund vom 8.2. 2012 als Leserbrief erschienen, allerdings mit Änderungen und Kürzungen. Hier der volle Leserbrief mit Hinweis auf die Änderungen.
Arthur Vogel vollführt in seinem Leitartikel unter dem Titel „Kühe und Esel“ erstaunliche Bocksprünge mit der Realität. Teuerungsausgleich, Lohnskala, Gesamtarbeitsverträge seien Schnee von gestern. Die Angestellten der Privatwirtschaft hätten sich zähneknirschend mit der Sachlage abgefunden, nur Linke, Gewerkschaften und gewisse Politiker „machten fröhlich weiter“. Der Präsident des Personalverbandes der Stadt wird abserviert. Er fordert nicht Lohnerhöhung, nein er „jammert“ und man könne ihm nur antworten: „willkommen im realen Leben“. Mit Verlaub: Vogels Wahrnehmung des realen Lebens hat rund 18 Jahre Rückstand. Mitte der 90er Jahre bezeichnete der Arbeitgeberpräsident Guido Richterich in der hohen Zeit des Neoliberalismus die Gesamtarbeitsverträge als „Auslaufmodell“. Seither sind der Abdeckungsgrad und die Zahl der Gesamtarbeitsverträge deutlich gestiegen – wenigstens eine Errungenschaft von Gewerkschaften und Linken im Kampf gegen sinkende Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen im Zeichen der Globalisierung. Heute ist selbst bei den Arbeitgebern wieder eine Renaissance der Gesamtarbeitsverträge festzustellen.
Vogel stört, dass der Gemeinderat sich selbst mit einer Lohnerhöhung „bis zu 20 Prozent“ bedacht hat. Nur der sehr aufmerksame Leser wird bemerken, dass der aktuelle Vorschlag des Gemeinderates sehr viel tiefer liegt, dass Vogel alte und neue Vorschläge, Gemeinderats- und Stadtpräsidentenbezüge vermischt und verschweigt, dass der Stadtrat eine Vorlage verlangt hat. Zum Problem, dass die höchsten Verantwortungsträger mehr als ihre Untergebenen verdienen sollten, ausser man setze das Primat der Politik und den Sinn einer Lohnskala ausser Kraft, äussert er sich gar nicht.
„Goldesel“ seien die Steuerzahler, welche das berappen, damit man sich „aus Geldtöpfen von unendlicher Tiefe“ bedienen kann. Nochmals mit Verlaub: Das ist eine Karikatur der tatsächlichen Dimensionen und eine inakzeptable Abqualifizierung demokratischer Prozesse, mit welchen über Budgets und Lohnreglemente entschieden wird. Die noch extremeren Exzesse „gewisser Grossfirmen“ werden beiseite geschoben, da die Privatfirmen selber wissen müssten, wie sie das Geld ausgeben wollen. Jedoch: Es sind nie Firmen, sondern immer Manager mit einer Verantwortung gegenüber Gesetzen, Verträgen und Ethik, die bestimmen. Trotzdem ist die Lohnschere und Abzockerei um Dimensionen grösser als bei öffentlichen Betrieben.
Ende des Leserbriefs im Bund. Bezeichnend: es fehlt der Schluss mit den Hinweisen auf die Gesamtarbeitsverträge bei den Medien und die Rolle des Kolumnisten als Chefredaktor...
Bei den grössten hundert börsenkotierten Firmen beziehen laut Ethos jedes Mitglied von Geschäftsleitung und Verwaltungsrat im Durchschnitt über 3 Millionen pro Jahr. Und wenn‘s dann privat schief geht, müssen Staat und Steuerzahler als Goldesel mit gigantischen Summen einstehen.
Vogel übt nach eigenem Bekunden „seit gut 35 Jahren mit Inbrunst“ den Beruf als „Kolumnist“ aus, ohne zu erwähnen, dass er vor allem Chefredaktor ist. In dieser Funktion steht er für die journalistische Qualität, und in der Lohnskala wohl über seinen Untergebenen. Es stimmt auch nicht, dass es für die Medien keine Gesamtarbeitsverträge gibt: am Gesamtarbeitsvertrag für die welschen Medien ist sein Arbeitgeber Tamedia selbst beteiligt. Dieser würde auch den deutschschweizer Medien gut anstehen.
p.s. Kolumne oder Leitartikel? Der Bund bezeichnet den Text von Arthur Vogel als Kolumne. Ich meine: wenn der Chefredaktor zu zentralen Themen der aktuellen städtischen Politik schreibt, hat das den Charakter eines Leitartikels, da er eine inhaltliche Position wiedergibt, die letztlich unabhängig vom Titel einer Rubrik gültig ist.