Ein Bier mit Wale Christen
Am 2. November verabschiedete im Gemeinschaftszentrum Gäbelbach eine grosse Schar Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter den langjährigen städtischen VPOD-Sekretär Walter Christen in die Pensionierung. Ich überbrachte die Grüsse der SP Stadt Bern.
Es ist lange her, dass ich zu Gewerkschaftskolleginnen und – kollegen gesprochen habe, und ich habe mich deshalb sehr auf heute gefreut, erst recht weil es der Abschied zu Ehren von Walter Christen ist – wir haben im Stadtrat und im Namen von VPOD und SP immer wieder zusammen gekämpft.
Selber habe ich nicht so lange wie Walter, aber doch zehn Jahre für die Gewerkschaft gearbeitet, den SMUV. Aber die wirkliche Gewerkschaftsarbeit habe ich als Mitglied und Präsident einer Betriebskommission gelernt. Ich weiss was das heisst, im Betrieb für die Gewerkschaft und die sozialen Forderungen einstehen und freue mich über alle, welche diese wichtige gewerkschaftliche Arbeit machen. Walter Christen, und der VPOD, pflegen diese Art der Gewerkschaftsarbeit, und was das neben Verhandlungen im Betrieb oder mit der Verwaltung auch heissen kann, haben wir unter anderem eindrücklich erlebt bei der Rentenalterdemo: Den gewerkschaftlichen Grossaufmarsch vor dem Rathaus an diesem sonnigen Donnerstag, wo viele von euch sicher dabei gewesen sind, werde ich nicht mehr vergessen.
Mit Walter Christen habe ich zusammen gearbeitet bei der Revision des Pensionskassenreglementes, bei Wahlen, bei der Frage service public und EWB. Auf ihn konnte ich mich bei sozialpolitischen Fragen immer verlassen. Bei gesellschaftlichen Fragen sind wir zum Teil völlig unterschiedlicher Meinung. Nicht einmal den gleichen Dialekt haben wir. Manchmal musste ich schmunzeln, dass der Zufall es wollte, dass wir zwei so unterschiedliche Naturen zusammen arbeiteten. Zu diesem Widerspruch, der eben gerade keiner ist, will ich kurz etwas sagen.
Ich glaube, die Gewerkschaften stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie die SP. Der Soziologe und ehemalige Gewerkschafts-Sekretär Daniel Oesch hat kürzlich gesagt: Die SP hat den Aufbruch in die neue Mittelklasse in den 80er Jahren bezahlt mit Verlusten bei den Arbeiterinnen und Arbeitern. Aber eben nicht wegen sozialpolitischen Differenzen zwischen diesen beiden Schichten oder Klassen, sondern wegen gesellschaftspolitisch unterschiedlichen Anschauungen. Die SVP konnte lange Stimmen holen mit emotionalen Themen wie EU, Volk und Nation, Kriminalität, Religion. Die Schwäche der Linken, nämlich in gesellschaftlichen Fragen diese Polarisierung mitzumachen, war die Stärke der SVP. Aber sobald die SVP zu sozialpolitischen Fragen Stellung nehmen muss, Stichwort Bonus, Mindestlohn, Lohnschere etc., politisiert sie als Partei der Milliardäre völlig an ihrer Basis vorbei.
Wir müssen beim Thema soziale Gerechtigkeit am Ball bleiben und im Umgang mit gesellschaftspolitischen Fragen eine gewisse Gelassenheit an Tag legen – bei der SP darum weil sie den Anspruch hat, eine Volkspartei zu sein, bei den Gewerkschaften, weil sie den Anspruch haben müssen, alle Beschäftigten zu organisieren. Auch wenn die kulturellen, gesellschaftlichen Unterschiede gross sind, „ob wir rote, gelbe Kragen, Helme oder Hüte tragen“, was zählt ist die gemeinsame Überzeugung von sozialer Gerechtigkeit.
Ich habe den Eindruck, dass nicht alle Gewerkschaften das gleich ernst nehmen. Die Rolle der Betriebskommissionen sollte man nicht unterschätzen, die kulturellen Unterschiede bei Fusionen auch nicht. Auch zwischen Gewerkschaften und SP gibt es Unterschiede, auch da braucht es Gealssenheit und gegenseitiges Verständnis, mehr als das heute teilweise der Fall ist.
Unterschiedliche Traditionen sind wichtig. Benedikt Loderer hat kürzlich gesagt, Tradition sei tot, es gäbe nicht mehr zu tradieren, weiter zu geben, weil im postindustriellen Zeitalter Erfahrungen nicht mehr zählen. Tradition sei nur noch Folklore. Das Gegenteil ist der Fall, wenn man nur schon schaut, wie lebendig die Volksmusik ist. Ich freue mich besonders, dass heute eine Volksmusik auf der Bühne steht. Noldi Alder, vierte Generation von der Alder-Streichmusik aus dem Appenzell, hat kürzlich an einem tollen Konzert in Basel gesagt: Fremde Einflüsse ausdrücklich erwünscht.
Auch gewerkschaftliche Arbeit braucht beides, Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Tradition und neue Einflüsse. Das gilt sogar für den 1.Mai. Hauptsache, ich kann weiterhin mit Wale Christen ein Bier trinken.