Eine seltene Stimme in der Sozialhilfe-Debatte
Christoph Berger ist SP-Stadtrat und seit vier Jahren arbeitslos. In der Stadtratsdebatte vom 4. September 2008 über Sozialmissbrauch und Sozialhilfe hielt er eine bemerkenswerte Rede: Christoph Berger weiss aus eigener Erfahrung, worüber der spricht. Diese Stimme fehlt leider oft. Hier sein Text.
Ich spreche als Mitglied des Vereins für soziale Gerechtigkeit, welcher den Mediendienst «Hälfte» herausgibt, und des Komitees der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen KABBA.
Vom Ausschuss der SBK hätte ich mir eigentlich eine sachliche Analyse der stadtbernischen Sozialdienste erhofft. Die Ausgangslage dafür wäre nämlich ausgezeichnet gewesen. Die Aufgabe war klar definiert und die richtigen Stellen und repräsentative VertreterInnen anderer Systeme wurden befragt. Leider hat es der Ausschuss, respektive Teile des Ausschusses, versäumt, erstens beim Thema zu bleiben und zweitens unter seinen Mitgliedern ernsthaft nach einem Konsens zu suchen.
Herausgekommen ist nun ein Bericht, der die Handlungs- und Verbesserungsmöglichkeiten der Sozialdienste der Stadt Bern nur am Rande streift. Stattdessen handelt es sich um ein bürgerliches Pamphlet, das den Abbau des gesamten schweizerischen Sozialsystems anstrebt. Da geht es oft gar nicht um Verhinderung von Missbrauch, sondern um Verschlechterungen für die Gesamtheit aller BezügerInnen. Dass dieser Bericht auf eine Definition des Begriffs «Sozialmissbrauch» gänzlich verzichtet, erstaunt unter diesen Voraussetzungen nicht: Für die drei befürwortenden Autoren beginnt der Sozialmissbrauch ja ganz offensichtlich bereits dort, wo sich jemand erdreistet, Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen überhaupt zu beantragen.
Dass Stadtratsmitglieder Amateure sind, welche die Rechtslage nicht kennen, ist mir eigentlich neu. Ein Grossteil der vorgeschlagenen Massnahmen zielt auf die Änderung oder Ausserkraftsetzung übergeordneten Rechts: Auf kantonale Regelungen und Gesetze, nationale Regelungen und nationales Recht, die Bundesverfassung wie auch ratifiziertes internationales Menschenrecht. Da werden massive Verschlechterungen des Systems gefordert wie die 100-prozentige Einstellung aller Zahlungen, also der Entzug der Lebensgrundlage. Und sogenannte «echte Gegenleistungen» für alle - nichts als ein beschönigender Begriff für «Arbeitslager». Der Bericht taugt zu nichts anderem, als das soziale Klima in der Schweiz noch weiter zu vergiften.
In der Schweiz gibt es rund eine Million Armutsbetroffene. In der Stadt Bern dürften es etwa 18- bis 20’000 Personen sein. Nur ein Bruchteil davon ist beim Sozialdienst gemeldet, auch wenn im Kanton Bern die Fälle steigen. Dass Leute arm sind, merkt man diesen meist nicht auf den ersten Blick an. Wer arm ist, versucht es zu verbergen, denn Armutsbetroffene werden hierzulande geächtet, der Faulheit bezichtigt und ausgegrenzt. Da wird auch schon mal die Kulturlegi nicht benutzt, aus Scham, sich an der Veranstaltungskasse als bedürftig outen zu müssen. Armutsbetroffene verstecken sich. Die Ängste sind scheinbar auch begründet. Wer in zerlumpten Kleidern eine Stelle sucht, wird in der Regel nicht fündig. Und im Bewerbungstraining wird man angehalten, sich als erfolgreich anzupreisen. Und die Wohnungssuche ist auch nicht einfach, wenn man womöglich noch Schulden hat.
Ich spreche selbst aus Erfahrung. Seit vier Jahren bin ich auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung angewiesen. Mehrere hundert Bewerbungen habe ich verschickt, ohne Erfolg. Dies offenbar, weil ich den falschen Beruf erlernt habe und meine berufliche Biografie nicht linear verlief. Anderswo könnte ich vielleicht an der Supermarktkasse oder als Tankwart arbeiten, aber hierzulande stellt niemand jemanden ein, der anderweitig qualifiziert ist. Seit vier Jahren kann ich kaum Mittel für die AHV und die zweite Säule einlegen. Aber solches verdrängt unsere Gesellschaft. Sie akzeptiert Sockelarbeitslosigkeit und Tieflöhne, will aber die Folgen davon nicht tragen. Stattdessen wird mit Zahlen und Statistiken gefochten. Damit kann man die Menschen dahinter wunderbar verstecken. Und noch etwas: Es stimmt ja schon, dass es genug Arbeit in der Schweiz gibt. Das Problem liegt aber darin, dass oft niemand bereit ist, etwas dafür zu bezahlen. Ich habe bisher sehr viel Freiwilligenarbeit geleistet. Ich muss Ihnen aber sagen, dass die Motivation dazu unter den gegebenen Umständen rapide im Sinken begriffen ist.
Es macht mich wirklich krank, wenn ich sehe, wie hier Leute, die über ein Einkommen von monatlich 10000 Franken aufwärts verfügen, genau zu wissen vorgeben, wie man mit 2- bis 3000 Franken auskommen soll. Und anstatt den Betroffenen zu helfen, würden sie lieber für jeden einen Polizisten anstellen, der genau aufpasst, dass ja kein Fünfer schwarz erwirtschaftet wird und welcher ständig die Peitsche schwingt. Da stört es sie nicht, wenn dieser Polizist wesentlich mehr Steuergelder kostet, als durch seine Arbeit wieder erwirtschaften wird. Das Beispiel von Emmen im Bericht zeigt das Missverhältnis eindrücklich. Das schlimme an der Armut ist ja nicht nur der materielle Mangel, sondern noch viel mehr der Generalverdacht, die Entmündigung und die permanente Überwachung, die da immer stärker betrieben werden soll.
Ich hoffe und wünsche mir, dass sich zukünftig vermehrt Armutsbetroffene nicht mehr verstecken, sondern ihre Rechte als vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft einfordern.
Christoph Berger