Von der Überwindung von Kapitalismus und Verkehrsproblemen
Herr Göttin, bei den Wahlen 2000 hatte die SP Stadt Bern einen Wähleranteil von 34,1 Prozent. 2008 waren es noch 24,4 Prozent. Worauf führen Sie diese Talfahrt zurück?
Wir haben mit BDP und GLP neue Konkurrenz erhalten. Bei den Grossratswahlen 2010 haben wir im Wahlkreis Bern wieder leicht zugelegt. Der Sinkflug ist gestoppt. In den letzten Jahren haben wir uns auch inhaltlich geöffnet.
Es gibt also Themen, die man vernachlässigt hat – wie zum Beispiel die Sicherheit.
Dem ist so. Wir haben einige Themen längere Zeit zu wenig gewichtet und haben das nun nachgeholt. Auch gewisse Fragen der Sozialpolitik gehören dazu.
Die Kontrollmassnahmen zur Missbrauchsbekämpfung in der Sozialhilfe zum Beispiel.
Wir haben dieses Thema zu lange den anderen Parteien überlassen. Diese Diskussionen waren für uns nicht einfach. Man muss nun aber auch nicht überschiessen und alle verdächtigen.
Bei der Sicherheit und dem Sozialhilfemissbrauch agiert die SP aus der Defensive. Fehlt ihr eine Vision?
In der Stadt ist die Hebung der Lebensqualität unser langfristiges Ziel. Das umfasst vieles: Familienpolitik, Wohnen und Wohnumfeld, Verkehr, Mobilität, Sicherheit und Sozialpolitik.
Das Thema ist durch die Grünen besetzt.
Wir sind schon lange am Thema dran. Mit dem Setzen von ein paar Bäumen ist es nicht getan. Zur Lebensqualität gehören auch soziale Aspekte wie zum Beispiel genügend Krippenplätze und öffentliche Angebote.
Der zweite Sitz der SP im Gemeinderat wackelt. Die GFL und die Bürgerlichen erheben Anspruch darauf.
Es ist richtig, wenn sich die Bürgerlichen dem Wettbewerb stellen. Wir finden es auch gut, dass die GFL auf der Rot-Grün-Mitte-Liste mitmacht. Wir werden uns noch über die Art der gegenseitigen Unterstützung unterhalten.
Kandidiert Edith Olibet 2012 für eine vierte Amtszeit?
Wir warten auf einen Entscheid von Frau Olibet. Dieser wird in der ersten Hälfte 2011 fallen. Zugleich halten wir parteiintern Ausschau nach möglichen neuen Kandidierenden.
Wäre eine vierte Amtszeit von Edith Olibet denn wünschenswert?
Frau Olibet hat eine gute erste Legislaturhälfte absolviert.
Ihr Name steht aber für die anfängliche Blockade der Debatte über den Sozialhilfemissbrauch.
Diese Debatte fand mehrheitlich in der letzten Legislatur statt. Frau Olibet wurde 2008 wiedergewählt. Das ist auch eine Auszeichnung.
Was ist denn so brillant an Frau Olibets erster Legislaturhälfte?
Ich habe nicht von «brillant» gesprochen. Die Gesamtleistung von Frau Olibet in dieser Legislatur ist sicher besser als während der schwierigen Diskussion über die Sozialhilfe. Edith Olibet hat aber nicht nur dieses Dossier. Sie kümmert sich auch um andere wichtige Themen wie die Bildung, die Renovation der Schulhäuser, die Frühförderung oder die Investitionen in den Breitensport.
Für die Partei wäre es aber doch besser, 2012 mit einer neuen Kraft antreten zu können. Wer steht sonst in den Startlöchern?
Es steht eher eine Frau im Vordergrund. Die Stadträtinnen Giovanna Battagliero, Annette Lehmann und Ursula Marti wären valable Kandidatinnen. Auch die Grossrätinnen Flavia Wasserfallen und Irene Marti, Nationalrätin Evi Allemann und Ex-Statthalterin Regula Mader. Falls Ursula Wyss nicht Ständerätin wird, käme auch sie infrage.
Stadtpräsident Alexander Tschäppät will nicht in den Ständerat, weil seine Belastung mit einem Doppelmandat zu gross wäre. Demnach wird er für eine dritte Amtszeit kandidieren?
Das ist noch nicht entschieden. Seine Kandidatur wäre aber gut für Bern.
Inwiefern?
Er hat eine Ausstrahlung über die Stadt hinaus. Er ist sichtbar, hat Ecken und Kanten und bringt wichtige Dossiers voran. Er ist kein grauer Verwalter.
Auch seine Ausstrahlung auf Frauen soll legendär sein. Wie geht die Partei mit dem bisweilen saloppen Umgang ihres Spitzenmanns um.
Darüber reden wir mit ihm sehr offen. Er ist auch nicht Mister Perfect. Wir goutieren kein loses Mundwerk und sagen ihm, wenn uns etwas nicht gefällt.
Diese Seite des Stadtoberhaupts ist kein Handicap?
Nein. Es ist eine Facette seiner Persönlichkeit. Wichtig ist, dass er sich dessen auch bewusst ist und sich in der Regel entsprechend verhält.
Die FDP hat nach den legendären Aussagen Tschäppäts über Alt-Bundesrat Blocher («Motherfucker») per Vorstoss einen Code of Conduct für Gemeinderäte verlangt. Die SP hat in dieser Debatte geschwiegen. War Ihnen das Thema zu peinlich?
Überhaupt nicht. Die Debatte war kurz und sachlich. Ich hatte eine Rede vorbereitet. Aber nicht einmal die SVP hat die FDP in ihrem rechthaberischen Ton unterstützt. Nach dem klaren Votum der SVP habe ich auf das Wort verzichtet.
Was hätten Sie denn sagen wollen?
Für mich ist ein solches Verhalten für einen Stadtpräsidenten nicht tolerabel. Hier ist von einem Stadtpräsidenten Zurückhaltung nötig.
Für die Nationalratswahlen hat die SP Stadt Bern das Doppelmandatsverbot über Bord geworfen, um Tschäppät eine Kandidatur zu ermöglichen. Vor acht Jahren hat die Partei Tschäppät gezwungen, sein Nationalratsmandat niederzulegen.
Das Doppelmandatsverbot ist nicht aufgehoben. Die Geschäftsleitung hat sich jedoch klarer als vor acht Jahren für eine Ausnahme entschieden.
Warum braucht Bern einen Stadtpräsidenten im Nationalrat?
Bern braucht eine Stimme mit Ausstrahlung auf nationaler Ebene.
Ist es nicht so, dass die SP mit bekannten Namen drohende Sitzverluste abzuwenden versucht?
Nein. Wir haben immer den Anspruch, mit guten Namen ein gutes Resultat zu erzielen.
Auf der Nationalratsliste der SP Stadt Bern sind Plätze für sogenannte Quereinsteiger reserviert. Also geht es doch um eine Jagd nach berühmten Namen.
Es ist doch eine Auszeichnung, wenn sich bekannte Persönlichkeiten für die SP einsetzen wollen.
Warum nimmt die SP Stadt Bern nicht öffentlich zum Parteiprogramm der SP Schweiz Stellung?
Wir sind in Bern mit der Überwindung von Verkehrsproblemen und nicht mit der Überwindung des Kapitalismus beschäftigt. Die Leute können gut zwischen einem Programm und der täglichen Arbeit unterscheiden. Ein Programm, das auch Grundwerte benennt, ist eine Auszeichnung für eine Partei. Die Probleme des Kapitalismus wiederum sind heute mit Händen zu greifen.
Was wäre denn die Alternative zum Kapitalismus?
Es geht ja nicht um die Abschaffung der Marktwirtschaft. Die Frage ist, wie man die Wirtschaft organisiert, damit deren Ergebnisse der Mehrheit der Bevölkerung zugutekommen. Die Gesellschaft ist mehr als eine Ansammlung von Individuen, die ihren Nutzen optimieren.
Sie persönlich sind für die Abschaffung des Kapitalismus?
Ich unterstütze das Parteiprogramm.
. . .und die Abschaffung der Armee?
Das Thema ist schon lange auf der Traktandenliste der Schweizer Politik.
Das Verscheuchen der Wähler nehmen Sie dabei in Kauf.
Es ist gut, ein Programm zu haben. In der Stadt entscheidet sich die Politik aber im täglichen Engagement, bei den Menschen im Quartier. Wenn man es aber aufgibt, eine Vorstellung über das Funktionieren der Gesellschaft zu haben, gerät man in Gefahr, die Orientierung zu verlieren und entscheidet wie die Fahne im Wind.
Wird die SP Stadt Bern bei den Nationalratswahlen Sitze verlieren?
Wir wollen die Sitze halten. Bei den Stadtratswahlen 2012 möchten wir auf einen Wähleranteil von 27 Prozent kommen.