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Bern ist hellwach

Liebe Interessierte: Diese Textversion meiner 1. Augustrede habe ich mit einigen links, Quellen und Inputs (jeweils kursiv) ergänzt, die mich inspiriert haben.

 

Liebe Bernerinnen und Berner

Liebe Schweizerinnen und Schweizer

Liebe Freunde und Nachbarn, liebe Gäste

 

 

Bern ist eine wunderbare Stadt.

Bern ist eine Stadt im Aufbruch.

Wir feiern in drei Wochen – erstmals seit einer ganzen Generation – ein Stadtfest.

 

Die Idee eines Stadtfestes geht zurück auf einen Vorstoss im Stadtrat - ich musste ihn zweimal einreichen, weil das erste Mal der Gemeinderat 500 Jahre Bären feiern wollte. Nun aber klappt es mit dem Stadtfest!

 

Wir feiern es in Bümpliz, wo in den letzten Jahren ein ganzes Quartier entstanden ist. In der Länggasse wird ein neues Quartier entstehen. Wir bauen Tramlinien und vielleicht das erste Mal seit über vierzig Jahren wieder eine Brücke über die Aare, diesmal für Fussgänger und Velofahrer.

 

Der Aufbruch zeigt sich nicht nur in Gebäuden, sondern auch in den Zwischenräumen, in neuen Formen des Zusammenlebens, in der Lebensqualität.

 

Zum Weiterlesen: "Achtung: die Landschaft. Lässt sich die Stadt anders denken? ein erster Versuch. ETH Studio Basel 2015", wo das nicht gebaute Territorium in den Fokus rückt. Die Studie nimmt Bezug auf das Manifest "achtung: die Schweiz" von Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter 1955.

 

Der progr mit seinen Künstlerateliers, bis nach Berlin bekannt, das Haus der Religionen, ein europaweit einzigartiges Projekt, die Reitschule als Stachel und Jungbrunnen der Stadt, das Generationenhaus mitten im Zentrum, oder Quartierkommissionen, wie es sie sonst nirgends in der Schweiz gibt. Der Aufbruch zeigt sich in der Ausstrahlung und den Arbeitsplätzen, die Inselspital und 320 Unternehmen in der Medizinalbranche bieten.

 

Der grüne Regierungsrat Bernhard Pulver Anfang Juli 2016: "Wir wollen zum führenden Medizinalstandort der Schweiz werden".

 

Und in einer Stadt die keine Schulden hat, mit Gemeinderat, Verwaltung und Stadtrat, die besser zusammen arbeiten als oft behauptet wird – als Stadtratspräsident darf ich das sagen, ich bin beeindruckt was hier geleistet wird.

Darauf dürfen wir stolz sein, das darf uns Selbstvertrauen geben.

 

Bern macht sich aber manchmal kleiner als es ist. Bern sei bhäbig, gehe im Kriechgang, müsse aufwachen, heisst es.

 

Neuste Versionen dieser Haltung: Bern müsse aufwachen (Berner Zeitung) und Bern gehe im Kriechgang (der städtische Finanzdirektor Alexandre Schmidt, FDP)

 

Ich erlebe Bern anders. Bern sollte sich seiner Stärken bewusst sein und darf im Gegenteil mehr Mut zur Weitsicht haben. Ich stelle mir eine Vision vor, die Vision einer lebenswerten, lebendigen Stadt im Jahre 2040. Für Visionen sollte man nicht zum Augenarzt gehen, sondern Alice in Wunderland lesen, die sagt „Es ist eine ärmliche Art von Erinnerung, die nur rückwärts funktioniert.“

 

Vision 2040: Ein Interview von mir aus dem Jahre 2012 und die Grundlagen dafür. Rede von Bundesrat Alain Berset (SP) vom 27. Mai 2015 in Zürich ("Die Erinnerung muss zukunftstauglich sein", auch mit dem Zitat aus Alice im Wunderland).

 

Bern will den Veloverkehr auf 20% verdoppeln. Das ist gut, aber warum nicht vervierfachen? Kopenhagen steht schon bei 39% und will 50%.

 

Bern will den CO-2 Ausstoss um 30% senken. Warum nicht ganz auf fossile Energie verzichten? Stockholm plant bis 2050 den vollständigen Ausstieg.

 

Bern unternimmt viel für die Integration. Wir könnten weiter gehen, zum Beispiel mit einer Stadtbürgerschaft als Basis für die Teilnahme am städtischen Leben, in Rotterdam geht das, eine Identitätskarte für alle gibt es sogar in New York.

 

Ich höre schon: nicht machbar, nicht in Bern.

Ich glaube da unterschätzen wir uns gewaltig. Wir unterschätzen das Potential an Engagement der Bevölkerung, an Zuversicht und Erfindergeist von uns allen. Das Potential wächst, je erfolgreicher dass man es einsetzt und das Engagement nimmt niemandem etwas weg: wer nichts unternehmen will – auch gut. Wir sind alle Teil der gleichen Gesellschaft und aufeinander angewiesen. Wir erweitern nur die Möglichkeiten, wir öffnen den Fächer für neue Erfahrungen. Wir richten uns die ganze Stadt für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ein.

 

Zum Weiterlesen: "Achtung: die Landschaft", dann TEC21 Stadtbaukunst, sowie Colin Ellards, Places of Heart, The Psychogeography of Everyday Life, Bellevue Litterary Press, 2015 (nach Bund 16.2.2016) und Katharina Morawek in WoZ 28/2015. Ebenfalls inspirierend: der ehemalige Bürgermeister von Curitiba/Brasilien, Jaime Lerner.

 

Bern ist hellwach. Die Initiative kommt von der jungen Generation. Diese Generation ist in Netzwerken organisiert, mit der ganzen Welt verbunden, beherrscht die neuen Technologien und will (wenn sie nicht gerade Pokemon spielt) Verantwortung. „Freiraum bedeutet Verantwortung übernehmen“, wie uns die Reitschule auf einem Transparent den Spiegel vorhält. Die Initiative kommt auch von der Burgergemeinde, die mit dem Konzept Generationenhaus einen starken Akzent setzt. Sie kommt von den Zugewanderten, welche die Welt nach Bern bringen.

 

Ich habe mich sehr gefreut, als vor zwei Jahren Tanja Espinoza als Stadtratspräsidentin hier die 1. Augustrede gehalten hat:eine waschechte Bernerin und gebürtig aus Bolivien, das ist noch etwas weiter als Basel, wo ich aufgewachsen bin. Eine Stadt spricht viele Sprachen, und aus Rücksicht darauf verwende ich heute zwei davon, ich habe in Hochdeutsch begonnen und fahre im Dialekt weiter (ich hoffe ihr versteht mich trotzdem).

 

Ich bin beeindruckt was alles läuft in Bern. Nur ein Beispiel: in der alten Feuerwehrkaserne Viktoria im Breitsch sind Asylbewerber und 20 Projekte und Gewerbebetriebe unter einem Dach. Ein Ziel ist Förderung von Gemeinschaft, es gibt einen Märit für innovative Bauernbetriebe aus der Region, Veranstaltungen zur Esskultur und kulturelle, sportliche und soziale Initiativen. Wenn wir erfahren, was wir oder andere können bewirken, wirkt das ansteckend. Niemand hat den Überblick, ich jedenfalls nicht, aber wenn wir uns auf das Engagement achten, dann sehen wir es plötzlich überall. Öffentliche Gemüsebeete gibt es schon im Burgernziel, Lorrainepark, beim Stauffacherplatz, Egelsee, an der Militärstrasse, in Bümpliz und Bethlehem: ein farbenfrohes und regionales Bern ist am Entstehen.

 

Das ist viel mehr als „nur“ Selbstversorgung, das bedeutet Suche nach neuen Formen von Austausch, Zusammenarbeit und gemeinsamen Erfahrungen: die Bring- und Holtage gehören dazu, mobility, Ausleih- und Reparaturservice oder die Solaranlagen auf den städtischen Dächern. Ein Experte für Soziale Innovation aus der Ostschweiz hat mir kürzlich gesagt, er staune über Bern, in Zürich wisse man einfach nichts davon. Auch bei Gesundheit, Alter, Wohnen gibt es neue Gemeinschaftsformen, und es sind längst nicht nur Junge dabei, sondern auch Leute mit viel Erfahrung. Alle haben unsere Wertschätzung verdient.

 

Es gäbe noch viel für eine Vision 2040. Statt dass wir den Quartierkommissionen ein paar Franken mehr bewilligen, könnten wir einen Teil vom städtischen Budges direkt zur Selbstverwaltung in die Quartiere geben, und zusätzlich – wie in Paris - ein Teil vom Gesamtbudget für Ideen und Entscheid der ganzen Bevölkerung zur Verfügung stellen.

 

Wir könnten nicht nur einzelne Kindergärten, sondern das ganze Viererfeld mit Holz bauen. In Ostermundigen gibt es aus einheimischem Holz eine Kletterhalle, eine Industriehalle und das Wohnquartier Oberfeld. An innovativen Firmen fehlt es nicht in der Region.

 

Zum Weiterlesen: TEC21 Sonderheft Stadt aus Holz, Kletter- und Industriehalle in Ostermundigen durch Beer Holzbau

 

Wir brauchen das Gewerbe, Gewerbezonen, zahlbare Ladenlokale, regionale Vernetzung. Warum nicht sogar eine lokale Währung. Der Lohn der nächsten Stadtpräsidentin wäre in lokaler Währung, das geht in Bristol, dreimal so gross wie Bern. Ich habe den Stadtpräsidenten von Bristol, George Ferguson, kürzlich getroffen, ein humorvoller, engagierter Mensch. Bristol, Kopenhagen und Stockholm haben übrigens alle in den letzten Jahren einmal den europäischen green capital award gewonnen. Bern könnte sich das auch zum Ziel setzen.

 

In den Städten stehen zentrale Fragen zur Diskussion: Umwelt, Gesundheit, Mobilität, Integration. Es gibt aber auch Themen die uns in diesen Wochen mehr als sonst, und viel mehr als anders beschäftigen: Terrorismus, Flüchtlingspolitik, entfesselte Finanzmärkte, soziale Ungleichheit.

 

Städte können nicht alle diese Probleme lösen. Aber einiges beitragen. In der Schweiz, wo allein Bern grösser ist als neun Kantone und Halbkantone mit 14 Sitzen im Ständerat. In Europa und weltweit, wo Städte die Motoren für Veränderung sind. Die grossen Fragen hängen immer auch mit der lokalen Ebene zusammen.

 

Soziale Ungleichheit nimmt zu und liegt, da bin ich überzeugt, am Ursprung von vielen aktuellen Problemen. Das erzeugt ein Gefühl von Ohnmacht – nicht bei denen wo’s guet geit, sondern von den andern. Das untergräbt das gegenseitige Vertrauen und den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Aber auch da: die Erfahrung, dass man selbst etwas bewirken kann, sei es auch nur im Kleinen, hilft, dass wir uns bei den scheinbar übermächtigen Themen nicht ganz hilflos und verloren fühlen. Gemeinsame Erfahrungen sind der Schlüssel zu Selbstvertrauen und Wertschätzung.

 

Die frühere Umweltministerin von Venezuela, Yolanda Kakabadse, hat mich in einer Rede 2007 in Basel beeindruckt: wir sollten nicht die Armut in Entwicklungsländern bekämpfen, die durch die Umweltzerstörung der grossen Konzerne entstanden ist, sondern den lokalen Gesellschaften ermöglichen, sich für ihre Umwelt einzusetzen, das sei die beste Prävention gegen Armut. Anregung zu gemeinsamen Erfahrungen als Lernprozessen auch bei Thomas Beschorner oder Hans A. Wüthrich.

 

Ich hoffe, dass die offizielle Politik und die Medien diese Entwicklungen nicht verschlafen. Im Moment beschäftigen sie sich auf lokaler Ebene besonders gerne mit Gemeindefusionen. Das Resultat: Die regionale Zusammenarbeit krankt an komplizierten, politiklastigen Strukturen. Komplexe Fragen sollte man nicht zusätzlich noch kompliziert machen. Möglichst transparent zusammenarbeiten. Wenn es dann soweit ist mit einer Fusion, wird man sich fragen, warum man das nicht schon längst gemacht hat. Und wenn man nicht einfach an die andern appelliert, was sie sollten und müssten, sondern auch selber anpackt, fördert dies das gegenseitige Verständnis. Genauso wenn man sich die richtigen Fragen stellt, auch wenn sie - einfach - aber unbequem sind. Oder wie es Mani Matter formuliert hat, der am Donnerstag 80 Jahre alt werden würde:

Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit, was aber nid geit, ohni dass’s dene, weniger guet geit, wos guet geit. Drum geit weni, für dass es dene, besser geit, wos weniger guet geit, und drum geits o, dene nid besser, wos guet geit.

 

Wir alle sind auch in Europa verwurzelt, diesem wunderbaren und vielfältigen Kontinent. Grenzen sind nie dicht. Offenheit, Solidarität und Integration sind ein zentraler Beitrag, den wir als Städte, wir als Stadt Bern an die Gesellschaft leisten und Vielfalt ist etwas, dass wir dafür zurückbekommen.

 

Selbstvertrauen und gegenseitige Wertschätzung ist die Basis für Offenheit, für den Kontakt mit dem Unbekannten und für die nächsten Schritte in die Zukunft. Diese Schritte machen wir mit und für die junge Generation. Es können kleinere, grössere Schritte sein, so vielfältig wie wir als Gesellschaft sind. Wir stolpern zwischendurch. Am Schluss gewinnen wir alle.

 

Selbstvertrauen und gegenseitige Wertschätzung schützt – zum Glück – nicht vor Gefühlen der Angst oder Überforderung. Aber es hilft gegen die, welche mit der Empörung und der Angst ihr Geschäft machen. Und es ermöglicht gemeinsame Momente von Glück und Lebensfreude.

 

Zum Geschäft mit der Angst: Constantin Seibt, „Die Produktion von Angst“ in Tagesanzeiger 28.5.2015 und Rafik Schami, Essay in WoZ 14.4.2016

 

In der Stadt entstehen neue Lieder. Mythen und Symbole verändern sich mit uns, begleiten uns in Zukunft. Sie sind wie Stilmöbel, die man erbt, und die zwischendurch ein neues Polster oder eine neue Lehne brauchen, wie zum Beispiel die Nationalhymne. Ich habe Freude am frischen Sound von der Knabenmusik Bern oder an der Improvisation des Glockenspiels im Münster am Ende dieser Feier.

 

Zum Stilmöbel: Adolf Muschg meint, die Nationalhymne sei wie ein geerbtes Stilmöbel, das man entsorgt oder als Erinnerungsstück behält (in: "Daraus wird niemals ein Lied, Bund 9.9.2015).

 

Ich wünsche uns allen hier auf dem Münsterplatz, in Bern, in der Schweiz Selbstvertrauen, Weitsicht und Lebensfreude. Ich sage merci für das tägliche Engagement, ich freue mich auf weitere gemeinsame Erfahrungen und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

Bern 1. August 2016

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