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Die Krisen der Demokratie

 

"Ist die Demokratie am Ende? Hat sie eine Antwort auf die Globalisierung, durch die immer mehr Entscheidungen von größter Tragweite auf demokratisch nicht legitimierte politische Institutionen und auf nicht mehr kontrollierbare Großunternehmen verlagert werden? Wie geht sie mit den sozialen Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung um, die den Verlierern weniger Chancen zu lassen scheinen, als sie das Proletariat am Beginn der Industrialisierung hatte? Wie wird sie mit den neuen populistischen Bewegungen eines Haider oder Bossi fertig? Wie kann man die zunehmende Apathie der Wähler aufheben, die nicht mehr die Chance sehen, ihrem Willen in demokratischen Prozessen politisch geltend zu machen? Schließlich: Wie könnte eine »neue Demokratie« aussehen? Solchen und anderen Fragen gelten die zehn Gespräche, die Ralf Dahrendorf mit dem italienischen Journalisten Antonio Polito führt. In Wahrheit sind hier aber durch die Informationsdichte, die Präzision der Analysen, den Gedankenreichtum und den Mut zu eigenen Urteilen meisterhafte politische Essays entstanden. Hier spricht einer, der wie wenige die Qualifikation als Wissenschaftler, als Politiker und als brillanter Journalist in sich vereinigt. "

Rezension von Bernd Kittlaus

Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie, Ein Gespräch, München 2002

Ralf Dahrendorf in Zitaten:

Die Hauptlinien der neuen Konflikte

"Die globale Klasse sieht sich mit zwei Hauptlinien des Konflikts konfrontiert. Da ist einmal der sozusagen klassische Konflikt, also der Kampf der neuen Klasse mit ihrer historischen Vorgängerin. Charles Leadbeater hat die Sprache geliefert, die Tony Blair und andere seither aufgenommen haben. 
(...).
Die andere Hauptlinie des Konflikts ist die schwierigere und beunruhigendere, die sich aus der neuen Ungleichheit ergibt (...). »Ungleichheit ist zu einem akuten, chronischen und endemischen Merkmal moderner Gesellschaften geworden.« Aber so wie »Bildung, Bildung, Bildung« das Hormon zur Stärkung der Macht der globalen Klasse ist, ist »Arbeit, Arbeit, Arbeit« ihr Mittel gegen die neue Ungleichheit, und es wird nicht funktionieren. Jedenfalls wird es dann nicht funktionieren, wenn wir jenen höchsten Wert bewahren wollen, die Freiheit."
(Ralf Dahrendorf in Merkur H.11/2000, S.1066f.)

Die neue Klasse der Überflüssigen

"Die aufsteigende globale Klasse (...) braucht nicht alle prinzipiell verfügbare Arbeit. Sie braucht Computer, aber nicht Arbeiter. (wenn ich ein Buch über diese Klasse und die neuen Konflikte schreibe, werde ich es Kapital ohne Arbeit nenen.) Die Arbeit, die für viele gefunden wird, hat daher etwas Beliebiges, fast Überflüssiges."
(Ralf Dahrendorf in Merkur H.11/2000, S.1065.)

Die Zivilgesellschaft der Integrierten

"Freiwillige Tätigkeiten werden von sozial Ausgeschlossenen nicht ernst genommen. Im Gegenteil; wie wir gesehen haben, sind es die gut Ausgebildeten und Erfolgreichen, die aktiv am Leben der Bürgergesellschaft teilnehmen."
(Ralf Dahrendorf in Merkur H.11/2000, S.1065.)

Die Grenzen des Kommunitarismus und Folgen

"Die globale Klasse will (...) Gesellschaften haben, die zusammenhalten. Der Kommunitarismus allein wird das nicht erreichen und auch nicht die Stärkung des freiwilligen Sektors von Nicht-Regierungsorganisationen. Eben darum ist Arbeit für alle so ein verzweifelt wichtiges Thema geworden. Arbeit für alle sit besonders nötig als Instrument der sozialen Kontrolle. Was aber, wenn Menschen die verfügbare Arbeit nicht wollen, weil sie wohl wissen, daß sie nicht eigentlich gebraucht werden? Dann muß man sie zur Arbeit zwingen. Sozialleistungen müssen gekürzt werden für alle, die nicht arbeiten, auch wenn sie ledige Mütter mit ganz kleinen Kindern sind. Sozialbetrug muß schärfstens bekämpft werden, auch wenn seine Ausmaße durchaus bescheiden bleiben.
(Ralf Dahrendorf in Merkur H.11/2000, S.1066f.)

Entdemokratisierung und neuer Autoritarismus

"Es gibt keinerlei Beispiele für wirksame demokratische Institutionen jenseits des Nationalstaates. Doch operiert die globale Klasse eben dort, also jenseits des Nationalstaates. Damit wird die Demokratie zum Teil der »Kräfte des Konservatismus«
(...).
An Stelle der Demokratie finden wir neue Formen des Autoritarismus. Zum Teil sind diese durchaus beabsichtigt. Menschen zur Arbeit zu zwingen, auch wenn es durch indirekte Mittel geschieht, ist eine autoritäre Politik. (Das Recht auf Arbeit ist ein Mißbrauch der Sprache, da es nicht erzwingbar ist; das Recht, nicht zu arbeiten, ist hingegen ein liberales Prinzip.)"
(Ralf Dahrendorf in Merkur H.11/2000, S.1067)

Plädoyer für die offene Gesellschaft

"es lässt sich wohl doch darüber streiten, wie lobenswert es ist, dass Singapur die einzige Regierung hat, die arme Familien mit niedrigem Bildungsstand dafür bezahlt, keine Kinder zu haben, und umgekehrt gut verdienende Akademikerpaare unter anderem durch Reisen auf »Heiratsschiffen« zum Kinderkriegen ermuntert.
Der Schluss aus solchen Erfahrungen ist einfach, wenn auch nicht nur ermutigend. Die gute Gesellschaft von oben - also die gemachte und daher machbare gute Gesellschaft - ist fast notwendig autoritär. Der verordnete Einschluss aller macht Andersdenkende zu Kriminellen und raubt den vielen Mitmachern jene Chancen und Freuden, die nur eine freie, offene Gesellschaft vermitteln kann. Lebenswert sind Gesellschaften nur, wenn ihre Qualität das Werk ihrer Bürger ist (...).
Vielleicht ist es am Ende doch besser, die Rede von der guten Gesellschaft aus unserem Vokabular zu streichen. Offene Gesellschaft, freie Gesellschaft - das sind ganz und gar zureichende Ziele."
(Ralf Dahrendorf in der Zeit Nr.41 vom 05.10.2000)