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Der Wörterbaum

Ich liebe meine Blätter. Auch die langen Wurzeln, den dicken Stamm und die krummen und die geraden Äste mag ich, doch mein grösster Schatz sind meine Blätter: Viele, viele tausend Wörter, Nomen, Adjektive, Verben, Adverben, Ausrufe- und Bindewörter, grosse Familien, kleine Familien und sogar ein paar ganz kurlige Einzelstücke: Die Ach’s und Oje’s, das sapperlott, das Komma, die Ausrufezeichen und Strichpunkte.

Manche meiner Äste hangen voll mit bananenblättergrossen Adjektiven: hemdsärmelig, wasserabstossend, federleicht. Andere tragen dicke Nomen: Schnappschuss, Ringelblume, Ringelsocken, Süssholzraspler, Hose, Haut, Ball, Blut, Fünfzimmerwohnung, Altweibersommer. Saft und Kraft tragen die Verben, wenn sie duften, springen, sausen, luften, jagen, hintersinnen, widerstehen, murmeln aufbäumen.

Ich bin immergrün wie ein Mangobaum. Das ganze Jahr hindurch verliere ich Blätter und gleichzeitig treiben immer wieder neue aus. Vor kurzem habe ich einen Schnatz entdeckt, von dem ich selber nicht weiss, wie er schmeckt und was er bedeutet: Knautschzone, PC, pink, mailen und SMSlen sind neu. An einem jungen Ast hängen hönne, mega, giga und eh.

Es gibt blasse, abgeschabte, müde, dünne und durchsichtige Wörter, die lange und zäh hängen bleiben und nicht abfallen wollen. Sie pappen zusammen wie matschiges Gemüse. Gar nicht gerne habe ich die Fremdwörter, welche sich wie Zwerghamster vermehren. Was soll ich mit einem Blatt wie eurhythmisch, Spekulationsgewinn, differenzieren oder Herzinsuffizienz? Die kann man nicht essen, nicht kauen, sie sind stachelig und am besten macht man einen grossen Bogen darum.

An den knorrigsten Ästen wachsen widerspenstige, selten gebrauchte Wörter: Erzhalunke, mampfen, Watschen, krakelig, Donnerwetter. Es gibt Blätter, die tragen eine bekannte oder eine fast vergessene Geschichte mit sich. Onkel Dagobert ist Reichtum, Geiz und Gier, Helena ist die sagenhafte Schlacht um Troja, Knappe, Eibe, Armbrust, Troubadour sind Mittelalter, Mastkorb der Windjammer im Atlantik.

Der Wörterbaum bildet Stilblüten und Wörterfrüchte. Seit uralten Zeiten haben die Menschen von meinen Früchten gegessen und sind deshalb auch aus dem Paradies vertrieben worden. Nicht alle meine Früchte sind nämlich unschuldig. Mit ihnen kann man lügen, verleumden, anschwärzen. Aber die meisten sind wunderschön, süss und saftig. Seit die Menschen Wörterfrüchte benutzen, haben sie damit Gedichte, Sagen und Geschichten erdacht. Diese Gedichte und Geschichten leben weiter und bekommen manchmal

"Graue Ha re: D eses Gedi ht ist alt. Es verliert s hon uchstaben. Aber es wi l nicht in die Bibliothe . Auf gar kein Fall."

Wenn es mir langweilig ist, unterhalte ich mich mit meinem Nachbarn, dem Zahlenbaum. Der hat noch viel mehr Blätter als ich, unendlich viele, behauptet er immer, und mit diesen kann er lustige Kunststücke machen. Er multipliziert sie alle mit Null, und nullkommaplötzlich sind sie alle verschwunden. Auch seine Zahlen haben Geschichten, die glückliche, vollendete Acht liebe ich am meisten, aber auch die Zwölf oder die drei. Manchmal zanken wir um unsere Blätter, so will der Zahlenbaum immer meine Fünfzimmerwohnung haben. Ich lehne sie ihm aus und erhalte dafür das Quadrat.

Thomas Göttin 2003