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Ich gehöre unter kantonale Aufsicht

Mit zwei prominenten bürgerlichen PolitikerInnen habe ich kürzlich die Finanzlage der Stadt Bern diskutiert. Unabhängig voneinander haben mir beide ins Gewissen geredet: Mit meinem persönlichen Haushalt würde ich wohl nicht derart verantwortungslos umgehen wie die Stadt mit dem ihrigen.

Seitdem plagen mich Gewissensbisse, denn: Bei mir ist alles noch viel schlimmer. Ich bin hoffnungslos verschuldet. Zwar besitze ich ein Haus, das aber mit Schulden in der Höhe von 400 (vierhundert!) Prozent meines Jahreseinkommens belastet ist. Das ist 16 mal schlimmer als bei der Stadt, wo der Bilanzfehlbetrag knapp 25 Prozent eines Jahresbudgets beträgt.

Macht nichts, bekomme ich zu hören, im Unterschied zur Stadt hätte ich mit dem Haus Vermögen und könne es jederzeit verkaufen. Das lindert mein Gewissen wenig: Nicht nur, dass auch die Stadt Vermögen hat, das meines im Verhältnis weit übertrifft, sondern was ist, wenn alle Hausbesitzer gleichzeitig verkaufen möchten oder die Bank meine Schulden einfordert? Finde ich einen Käufer, erhalte ich einen Preis? Nein, wertlos ist mein Haus dann und mein Vermögen Luft. Auch vernachlässige ich die Investitionen und werfe das Geld für Konsumausgaben wie Sofa, Kinderbücher und Whisky zum Fenster raus. Meine Finanzkennzahlen - Selbstfinanzierungsgrad, Kapitaldienstanteil, Investitionsneigung - sind katastrophal. Ich unternehme keine Spar-Anstrengungen zur Besserung, sondern schaue nur auf das Wohl meiner Familie, die Ausbildung der Kinder und engagiere mich gar noch gebührenfrei in Politik und Vereinen. Unverantwortlich. Ich gehöre unter die sofortige und zwangsweise Aufsicht des Kantons. Budgetkürzung! Schuldenabbau!

Sollte ich bei den Politiker-KollegInnen trotz meiner hoffnungsloser Lage Kredit und Vertrauen geniessen, bitte ich sie: gebt den Kredit der Stadt, sie hat es mehr verdient, sie wirtschaftet um Längen besser als ich, sie hat die viel komplexeren Aufgaben. Und weniger Schulden.

 

22.9.2006 Thomas Göttin