Skip to main content Skip to page footer

Brachland der Seele

Es ist wunderschön: so viele Gäste live hier, die ersten warmen Sommerabende, kein livestream, kein Zoom, und weil alle sitzen sieht es fast aus wie ein Sitzstreik für Kunst oder ein Happening.

Wir befinden uns in einem verborgenen Park.

Wie in einem mittelalterlichen Paradiesgarten lassen sich Genüsse erahnen – ich liebe die Paradiesgarten-Texte, z.b. bei Chrétiens de Troyes. Als wir im Frühling den Park besichtigten blühten Kirsch- und Apfelbäume, man hörte die Mönchsgrasmücke, den Kleiber, das Wintergoldhähnchen, oder den Zaunkönig - ich hätte ewig dem Vogelgesang lauschen können.

 Der Teich wird von einer eigenen Quelle gespiesen. Beim Eingang steht ein alter Grenzstein zwischen Bern und Köniz, die beiden Orte trennen ja eine über tausendjährige gemeinsame Geschichte. Es ist der Weissenstein, der dem Quartier den Namen gibt.

Mit der Geschichte von Bern und Köniz habe ich mich als Stadtratspräsident 2016 beschäftigt, da war es gerade 1000 Jahre her, als Bümpliz zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde, bei Köniz war dies 2019 soweit. Der Grenzstein aus weissen Kalkstein von 1808 hat die Schwurfinger eingemeisselt: wenn man verbannt wurde, musste man schwören, den Bannkreis nicht mehr zu betreten – sonst wurde man zusätzlich verurteilt wegen Bruch des Schwurs. Viele Verbannte wurden im Käfigturm verhört, diese Verhöre sind erhalten geblieben und zeigen einen Jahrhunderte langen Kampf der Obrigkeit gegen die Armen und ihr „herumschweiffen“ auf der Suche nach Arbeit.

Das Landgut selbst diente früher dem Heuhandel mit ein Heulager für Pferde, die Lindenallee erstreckte sich bis zur Schwarzenburgerstrasse.

Es gehört der Familie Kocher, der kürzlich verstorbene Nachkomme hatte eine offene Tür für KünstlerInnen, so wohnen Mat Callahan und Yvonne Moore dort, welche tolle Musik machen und die Geschichte von Arbeitskämpfe und Gewerkschafter in Musik fassten – der perfekte Ort für dieses Engagement. Gerade auch, weil ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen häufig auf unsicherem Terrain Vague leben, wie das etwa Filme von „Früchte des Zorns“ bis Nomadland schildern.

Haus und Park sind ein wunderbarer, unbestimmter Ort zwischen Halt und Aufbruch, eine Art terrain vague, Brachland, der perfekte Ort für diese Ausstellung. Ein Dank an Yvonne Moore und Mat Callahan, die hier wohnen, an Christine Brassel die hier wohnt und für das wunderbare Essen zuständig ist und an Jean Alazet aus Vingrau in Südfrankreich, von dem - einmal mehr - der Naturwein stammt. Jean und Jeanne aus Vingrau sind heute hier. Diese Ausstellung hat eine längere Geschichte, der Termin wurde verschoben, der Ort gewechselt.

Ursprünglich war die Ausstellung im unterirdischen Hochregallager des Swisscom-Hochhauses in Ostermundigen geplant, das mit seinen 28 Metern Raumhöhe den Charakter einer unterirdischen Kathedrale hat.

Der Park hat keine Wände, also waren 53 Holzgestelle zu schreinern und das Wetter musste mitspielen. Es bleibt ein schwieriges Jahr für alle die freischaffend arbeiten und beispielsweise von Bildern leben. Deshalb: kauft Bilder. Tut es einfach! Die Ausstellung findet nur heute statt. Und umso mehr - geniessen wir den wunderbaren Abend, den Park und die Bilder beim natürlichen Licht.

Le Terrain vague de l’âme – besteht aus zwei Sprachbildern: terrain vague, das Brachland, verbunden mit der vague de l’âme, da drin steckt die Welle und die Seele, der Blues, für mich die Sehnsucht. Die Verbindung stammt von Raoul und eröffnet eine ganze Welt. Brachland, erfüllt mit Sehnsucht.

Mit Sehnsucht erfülltes Brachland. Wie die Schützenmatte, die Raoul im Journal B beschrieben hat: „Die Schützenmatte ist Ankunft- oder Abreiseort in andere Länder für Cars und Autos, ist Chilbi und Schaustellerei mit Bahnen, Lichtern und Düften in die Nacht, launischer Treffpunkt, wetteroffenes Spielfeld, ist energiegeladen und Oase in einer fast zu Ende gedachten Stadt.“ Und weiter:

„Alle Räume werden zugedeckt und ersticken in unserem Bestreben, sie besser und schöner zu machen als sie sind. Besser und schöner heisst effizienter für Wirtschaft, Verkehr, Kultur oder Kinder, weil wir magnetisch angezogen werden vom Möglichen, vom Machbaren. Aber mit der so sehr angestrebten Umsetzung in welche Richtung auch immer verschwindet nicht nur der wirkliche Raum, sondern auch seine Möglichkeit, Möglichkeit zu bleiben.“ Brachland als eine Idee ohne Umsetzung, weil wir bei der Umsetzung alle andern Ideen aufgeben müssten.

Paolo Maurensig hat einen grossartigen Schach-Roman geschrieben: die Lüneburger Variante. Ein Zitat daraus ziert mein Lieblings-T-shirt: „Ogni scelta implica, di per sé, l'abbandono di tutte le alternative.“ Aber schon der nächste Satz holt mich wieder auf die Erde: „Se non fossimo costretti a scegliere, saremmo immortali.“

Und dann malt Raoul nackte Menschen, Menschen über fünfzig, weit ab vom gängigen Schönheitsideal. Einige Modelle sind anwesend, die Bilder stehen in Gruppen etwas versteckt in den Park-Lichtungen. Der Körper als Terrain vague de l’âme – wo nicht nur die Sehnsucht, sondern mehr noch die Seele sichtbar wird. Der Körper als ein mit Seele erfülltes Brachland. Mit dem Alter furchiger, wird der Abdruck der Seele sichtbarer. Die Haut ist Grenze zwischen Menschen und der Aussenwelt, und einzige Möglichkeit, wie man die Seele malen kann – oder mit dem Pinsel zeichnen, wie Raoul seine Arbeitsweise beschreibt. Sein Projekt ist ein malerisches und wahrlich ein kommerzielles Abenteuer, dafür zeugt es von Menschlichkeit und Aktualität.

Zur Menschlichkeit schrieb bereits der römische Dichter Ovid: „Zeit befreit von jeglichem Makel unseren Körper“ – nämlich dann wenn man den Körper der Liebe widmet. Im Alter erst recht sollten die Menschen die Weisheit besitzen, dass der Liebesdienst die bessere Beschäftigung als Kriegsdienst sei, sagte Ovid – worauf Kaiser Augustus ihn prompt aus Rom verbannte.

Ein Zitat aus dem zweiten Buch von Ovids „Ars amatoria“ in der wunderbaren Ausgabe von Tobias Roth, Asmus Trautsch und Melanie Möller, welche mit geistreichen Kommentare ergänzen. Ob er allerdings deswegen verbannt wurde oder vielleicht eher, weil der eine Liebschaft von Augustus mitbekommen hatte, ist nicht ganz klar. Ebenfalls im zweiten Buch finden sich die Zeilen: „Hast du die Orte gefunden, wo deine Berührung Vergnügen - Gibt, steh keinerlei Scham dir und euch beiden im Weg. Funkeln siehst  du dann ihr Auge in zitterndem Glanz.“ Hier taucht die Seele auf, bei Ovid und seit Platon wird das Antlitz verstanden als Organ der Seele.

Über die Aktualität von Seele kann ich nur unter Vorbehalt sprechen: ich bin konfessionslos, aber noch 2019 war für die Zürcher Regierung absolut klar: Seele sei ein religiöses Konzept und nichts für Konfessionslose.

Diesem (Un-)Verständnis der Seele bin ich begegnet im Zusammenhang mit der Ausstellung „Shiva begegnet SUVA. Religion und Staat im Alltag“, die wir 2019-20 im Polit-Forum Bern im Käfigturm erarbeitete hatten. Fairerweise seit gesagt, dass die zuständige Regierungsrätin Jacqueline Fehr dies sicher anders sieht.

Das hat etwas: Religionen haben ja gerade das Ziel, die Seele - und die Sehnsucht - zu kontrollieren. Nur das Licht Gottes, das im Mittelalter durch die Kathedrale auf die Gläubigen fällt, konnte die sündigen Körper bis zur Seele durchdringen. Auf die Suchenden und Zweifelnden fällt kein Licht.

Auf den Spuren des tollen Werks von Georges Duby „Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-1420“. Notre Dame in Paris stand seit 1250 als Zeichen der Macht der Kirche. Die Seele soll sich in der erfahrbaren Natur zeigen, damit wendet sich die Kirche gegen Ketzer wie Katharer in Südfrankreich in der Gegend von Vingrau – aber eben nur durch die Kathedrale als Symbol der Macht, wo das Licht Gottes durch die Rosette auf die sündigen Menschen scheint: „Gäbe es nicht die Sünde, die den Körper undurchlässig macht, könnte die Seele die Feuer der göttlichen Liebe direkt wahrnehmen,“ zitiert Duby einen der damaligen Denker, Robert Grosseteste. Was die Rosette von Notre Dame für die Kirche ist heute das Geld für Banken und Konsumkathedralen – aber das wäre ein weites Terrain.

Aber auch mit der Aufklärung und der individuellen Seele wurde es nicht besser: Zu viele Menschen haben andere umgebracht oder versklavt mit der Gewissheit, deren Seelen seien weniger wert. Die Vorstellung einer individuell bestimmbaren Seele, die man in letzter Konsequenz sogar irgendwie wägen könnte, ist deshalb genau so eine Sackgasse. Immer wieder ist es das Fertige, Gebaute, das dem vorläufigen, dem Brachland, die Seele raubt.

Ich kann immer noch nicht fassen, dass ein völlig abwegiges Experiment zur Seelenwägung mit Toten seit hundert Jahren immer wieder zitiert wird – in der Vorbereitung dieser Rede wurde ich unzählige Mal darauf angesprochen. Inspiriert haben mich hingegen Yuval Harari mit „Homo Deus, Eine Geschichte von Morgen.“, Kazuo Ishiguro mit dem Roman „Klara und die Sonne“ im Interview mit dem Bund vom 17.4.2021 sowie Lukas Bärfuss im Gespräche mit Yeboaa Ofosu am 22.4.2021 im Polit-Forum Bern, als es um Identität und Bewusstsein ging.

Und heute -  können uns Maschinen die Seele rauben? Oder sie zumindest kopieren?

Diese Frage beschäftigt mich spätestens seit ein Schachcomputer den Weltmeister schlug: „War der 19. Zug des Schachcomputers Deep Blue in der zweiten Partie, mit dem er vor 25 Jahren den Weltmeister besiegte, menschlich? Beseelt? Hat der Computer watson, der vor zehn Jahren das amerikanische TV-Quiz jeopardy gewann, wo es um mehrdeutigen Sprachwitz geht, Humor?“ Die beiden Aspekte flogen aus dem Text, weil neuere Anwendungen noch viel verstörender sind: „Der Mensch wird hybrid. Wo hört der Mensch auf und wo fängt der Roboter an? Japanischen Forschern gelingt die Verschmelzung“, in Reportagen 45/2019. Oder „Applaus für den Automaten“, Regula Fuchs in Bund 17.5.2021

Wo sitzt die Seele der Grossmutter, wenn sie in einem Pflegheim im japanischen Aichi lebt und als Tele-Roboter an der Hochzeit ihres Enkels teilnimmt und er sie – oder den Roboter – küsst? –Wem applaudieren wir, wenn ein Roboter anstelle des Schauspielers den Theaterabend bestreitet wie kürzlich am Auawirleben-Festival in Bern? Was passiert wenn sich Menschen über Elektroden ans Internet der Abilities anschliessen und Klavier spielen? Sind menschliche Gefühle etwas einzigartiges, sind es Menschen, und wie behalten wir unsere Rechte, unsere Würde?

Fragen von Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, der sich in „Klara und die Sonne“ mit künstlicher Intelligenz befasst (Bund 17.4.2021) und der mich schon mit dem Roman „Never let me go“ beeindruckt hat, worin Klon-Menschen als Organ-Spender gezüchtet werden.

Wir haben in der Vorbereitung der Ausstellung viel über solche Fragen diskutiert, jeweils am Sonntag Abend bei Raoul. Ihn haben die Diskussionen sehr beschäftigt, auch unsere Differenzen bei Corona, weil er sagt: Das Du ist wichtig, dafür malt man, und deshalb muss man es spüren. Nicht so wie der Maler Max Gubler, der den Draht zum Gegenüber irgendwann verloren hat und in der Psychi landete.

Raoul hat auch einen Fragebogen verschickt mit Fragen zur Malerei, einige von euch haben ihn vielleicht erhalten. Darunter die letzte Frage, Nr. 68: „Haben ein Bild, ein Musikstück, ein Text einen Sinn, auch wenn sie von keinem Menschen gesehen, gehört oder gelesen werden?“ 59% antworten mit Ja, 31% mit Nein.

Ein Nein für die menschliche Seele: Ohne Gegenüber kein Malen.

Ohne zumindest zwei Menschen keine Seele.

Anstelle von Religion, Egoismus und Maschinen sollten wir uns diesen menschlichen, verbindenden Zugang zur Seele offen halten. Auch Stimme und Musik öffnen den Zugang zur einer Seele welche Menschen verbindet, meinte die Saxophonistin Araxi an einem Abend. Sie hat mich sehr berührt mit dieser Vorstellung, die vague de l’âme, die Seelenwelle, die sich zwischen den Menschen bewegt.

So sind wir auch mit anderen beseelten Wesen verbunden: König Salomon konnte mit Tieren reden, Franziskus konnte es. Auch dazu gibt es aus Raouls Fragebogen eine Frage: „Wenn das Wort «Schönheit» an unsere Emotionalität geknüpft ist, kann ein Tier einen Sonnenuntergang als schön empfinden?“ 47% antworten mit Ja, 30% mit Nein. Vielleicht werden wir die Tiere eines Tages bald fragen können: Deep learning Projekte wollen die Kommunikation zwischen Tieren entschlüsseln, ohne auf der menschlichen Sprache aufzubauen. Der Austausch zwischen Mensch und Tier könnte über das „interspecies internet“ geschehen, das bereits im Aufbau ist. Überhaupt bestehen die meisten Organismen, auch wir Menschen, aus mehr Zellen von andern Lebewesen als unseren eigenen. So wird der Begriff des Individuums, des im Wortsinn Unteilbaren, offensichtlich langsam unpassend.

Mit Franziskus beschäftigte ich mich vor Jahrzehnten im Zusammenhang mit den Waldensern und andern Ketzern des 12. Jahrhunderts. Später hat mich Michael Tomasello begleitet mit dem Verständnis für Menschen und der Entstehung der Sprache (zuletzt: Mensch werden), nun aber vor allem Tanja Busse mit „Das Sterben der anderen. Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können“. Über Ko-Evolution von Mensch und Umwelt habe ich selbst gesprochen an der nationalen Gesundheitskonferenz 2013 („Balancieren über Kieselsteine“).
 

Wenn uns diese Seelen- und Sehnsuchtswelle verbindet, dann geht das nur mit Gleichberechtigung unter den Menschen und Achtung gegenüber Tieren und Pflanzen.

Betrachtungen über Tintenfische und Pilze habe ich wieder gestrichen. Mit der Kommunikation von Tieren beschäftigt sich Philip Ball in „The Challenges of Anmial Translation“, in New Yorker 27.4.2021, wo er über deep learning Projekte berichtet, aber auch über die Fähigkeiten von Tintenfischen „probably the closest we will come to meeting an intelligent alien.“ Pilze wären eine Anspielung auf „Mit Pilzen denken“ von Christine Lötscher in Geschichte der Gegenwart – und mit Bezug auf Anna Lowenhaupt Tsing’s Buch «Der Pilz am Ende der Welt», das sich um den Matsutake-Pilz dreht.

Mit Dominanz und Herrschaft ist das nicht vereinbar. Praktischerweise verlegen Herrscher ja die Erlösung der Seele immer ins Jenseits zu den Toten. Mir sind der nackte Kaiser, der nackte Körper und überhaupt die Seelen der Lebenden lieber – und damit auch die Demokratie mit aller Vorläufigkeit und Unberechenbarkeit ihrer Entscheide, solange sie nicht den Anspruch aufgibt, vorerst einmal möglichst alle Menschen zu beteiligen.

Ja lieber Raoul, herzlichen Dank für deine Bilder, deine Sprachbilder, sie erweitern das Schauen und Denken. Und du bist schon bei einem weiteren Sprachbild – der peau de l’eau, der Haut und Oberfläche des Wassers, und den nächsten Bildern: Diese lebendigen Wasser vor dem Hintergrund der Bäume und Sträucher, ein Spiel von Licht und Schatten, als würden sie sich austauschen. Vielleicht ist es überhaupt eher eine durchlässige Membran statt Haut die uns, genauso wie Musik, mehr verbindet als trennt.

Wir Membranen. Die Künstlerin Pamela Rosenkranz weiss dass Technik und Natur längst miteinander verflochten sind und immer alles durch uns hindurchfliesst“, Christoph Heim im Tagesanzeiger Magazin 16/21

Man kann sie berühren und sich berühren lassen. Nackt ist man verletzlich und schutzlos und gleichzeitig in einem offenen Raum. Das war auch meine Erfahrung als Portraitierter: Für das Foto der Vorlage stehe ich in die Sonne – wie wenn das mit den heutigen Fotoapparaten noch nötig wäre, ich blinzle wie ein Sünder und Zweifler – und erhalte das im gemeinsam erfahrbaren Raum von dir gemalt und mit-geteilt.

Der beseelte Körper als ein Brachland der Möglichkeiten, der sich nicht nur über die Zeit, sondern auch im Raum und in Bezug zu unserer Umwelt verändert. Davon berichtet das Terrain vague de l’âme.