Normalität die nicht normal ist
Eines der grossen Themen Europas ist der Umgang mit Flüchtlingen, was in den Jahren 2015/16 zu einem Ereignis kulminierte, das oft als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird, verbunden mit Orten wie: Lampedusa, Calais, Lesbos, Idomeni. Febe Tognina ist Tessinerin, heute 25 Jahre alt, lebt in Bern und hat diese Zeit sehr direkt miterlebt. Ihre Erfahrungen sind präsent und klar auch ohne Interviewfragen. Einzig die Zwischentitel sind ergänzt.
Die Welt steht offen
«Nach dem Gymnasium, vier Jahren in denen alles geplant war, stand für mich die Welt offen. Im Tessin geht man nach dem Gymnasium normalerweise erst einmal weg in einen anderen Teil der Schweiz. Ich hatte mich vorher schon mit dem Thema Migration beschäftigt, in der Schule haben wir uns mit den Fluchtwegen befasst. Es ist simpel: ist ein Weg blockiert, gibt es einen Umweg, man kann Flüchtlingsbewegungen nicht einfach blockieren.
Ich habe dann den umgekehrten Weg der Flüchtlinge gemacht: zuerst fünf Monate in einem Asylzentrum im Jura. Später in Sizilien arbeitete ich zwei Monate in einem kleinen Zentrum vor allem mit Jugendlichen. Besucht habe ich auch Lampedusa.
Flüchtlingskrise 2015
Ende 2014, als ich im Jura begonnen habe, war es noch keine Krise, ich habe das auch nicht so wahrgenommen. Das zeigte sich erst später, gegen Ende 2015. Es sind dann immer mehr Menschen angekommen, auch die Arbeit hat sich geändert. Man konnte weniger den Alltag und die Sprache mit den Flüchtlingen teilen, es ging viel mehr um Soforthilfe wie Essen, Kleider oder Möbel. Erst da wurde mir bewusst, dass ich direkt an einem grossen Ereignis Anteil nehme. Plötzlich interessierten sich viele Leute für das, was ich mache, sie fanden meine Arbeit und mein Engagement spannend. Es war viel in den Medien: Lesbos, Calais, das ertrunkene Kind am Strand in der Türkei. Gleichzeitig war das Engagement fast ein bisschen Mode, aber nach Calais zu gehen um ein paar Decken zu bringen ist nicht meine Art. Doch ich bin froh, dass dies viele andere Leute getan haben.
Jura
Das Asylzentrum in Goumois im Jura beherbergte viele Familien, Jugendliche und ältere Leute aus Ländern wie Eritrea, Marokko und Tunesien. Sie kamen nach der Ankunft in der Schweiz in die fünf Erstaufnahme-Zentren und wurden dann verteilt. Es gab wenig Aktivitäten, viel Langeweile, Warten auf den Asylbescheid. Ich leistete Freiwilligenarbeit für den Service Civil International. Wir versuchten das Leben etwas erträglicher zu gestalten, mit Französischkursen, Volleyball, gemeinsamem Einkaufen. Es war eine bizarre Normalität.
Sizilien
Das Zentrum Scicli in der Provinz Ragusa wurde von der Föderation der italienischen reformierten Kirchen unterstützt, darunter den Waldensern. Dort kamen vor allem Kinder und Jugendliche unter, auch Frauen mit kleinen Kindern, viele aus Gambia, Senegal, einige aus Syrien. Hier ging es vor allem darum, eine Art Normalität aufzubauen. Das sollte den Kindern und Jugendlichen auch helfen, allfällige Verwandte in verschiedenen Ländern Europas zu finden. Es wurde viel Fussball gespielt, und die Kinder waren teilweise in den normalen Schulklassen eingeteilt.
Lampedusa
Auf Lampedusa kam ich mit Amnesty International für eine Art Weiterbildung. Das eigentliche Lager konnten wir offiziell nicht besuchen. Wir haben halt einen Spaziergang unternommen. Es liegt weit ab vom Dorf, ist mit einem grossen blinden Metalltor gesichert, überall Polizei, überall Flutlichter wie auf einem Fussballplatz – oder im Gefängnis. Ja es glich einem Gefängnis. Das ist schrecklich, wenn man denkt, dass hier Menschen ankommen, die nach langer Flucht vielleicht einem autoritären Regime entkommen sind. Gleichzeitig machen auf Lampedusa Leute auch Ferien, das ist unglaublich. Gut, es hat ein wunderbares Meer, aber in diesem gleichen Meer sind ja viele Menschen ertrunken. Die Behörden haben versucht, die Schiffe tagsüber möglichst fern zu halten, damit die TouristInnen nichts bemerkten, anlegen konnten sie nur in der Nacht. Man sagt immer, Lampedusa sei die Insel der MigrantInnen, aber das stimmt überhaupt nicht, sie werden dort weggesperrt.
Zahlen und Menschen
Das gilt überhaupt für alle Zentren, die ich erlebt habe, mit Ausnahme vielleicht jenem auf Sizilien: sie sind immer möglichst weit weg von den Dörfern und vom normalen Alltag der einheimischen Bevölkerung. Aber ich wollte diese Menschen und ihre Geschichten kennen lernen. Ich kann die Antwort nicht akzeptieren, dass es keine Lösung gibt, dass «es einfach nicht geht». Ich habe auch viele engagierte Leute kennen gelernt mit kleinen Projekten, Sprachkursen, um den Lebensalltag zu teilen und den Geflüchteten trotz allem etwas Hoffnung zu geben. Es ist diese Diskrepanz, die mir zu schaffen macht zwischen den abstrakten Zahlen und Strukturen und den Menschen und ihrem Alltag, die davon betroffen sind.
Namen
Ich erinnere mich noch gut an viele von ihnen, vor allem aus dem Jura, in Sizilien waren die meisten ja viel jünger. Ich erinnere mich selbst an ihre Namen. Denn sie mussten jeden Tag ihre Anwesenheit mit Unterschrift bestätigen. Wenn jemand drei Tage fehlte, mussten wir das der Polizei melden. Um diese Prozedur etwas erträglicher zu machen, habe ich mir die Namen versucht zu merken, auch wenn es Namen waren, die ich noch nie zuvor gehört habe. Am Abend habe ich versucht sie mir einzuprägen, habe sie auch häufig wieder vergessen, aber am andern Tag konnte ich dann so die Blätter suchen, auf denen sie unterschreiben mussten. Mit einigen habe ich noch heute Kontakt, einzelne sind Freundinnen oder Freunde geworden. Andere wurden zurück nach Italien geschickt, wieder andere sind untergetaucht. Viele aus Eritrea konnten in der Schweiz bleiben und es ist eindrücklich, wie schnell es dann geht: Neues Zentrum, eigenes kleines Studio, eine Arbeit, und plötzlich sprechen sie Französisch. Es ist schön zu sehen, dass es auch diese Seite gibt.
Gesellschaft
Ich selber habe nach diesem Jahr in Neuenburg mit dem Studium der Ethnologie begonnen. Ich wollte wissen: wie funktionieren wir eigentlich als einzelne, als Gesellschafen zusammen mit andern. Das ist ja die Grundlage für alles. Zuerst habe ich mich 2-3 Jahre weiter stark engagiert. Auch meine Mutter hat Kleider gesammelt für Flüchtlinge in Milano, dann Kontakt aufgenommen mit den Flüchtlingszentren im Tessin, und mit der Zeit ist aus der Kleiderbörse ein kulturelles Zentrum entstanden. Da ist mir aufgefallen, dass es ja in der ganzen Schweiz viele kleine Asylzentren gibt, und überall, auch in den Dörfern viele kleine private Initiativen zu Unterstützung der Asylbewerber. Und mittlerweile sind ehemalige Asylbewerber, beispielsweise aus Eritrea, ein durchaus präsenter und engagierter Teil unserer Bevölkerung.
Druck
Mit der Zeit habe ich realisiert: viele Flüchtlinge müssen weg und kommen wieder, andere kommen neu bei uns an, und die Situation wird nicht besser. Das Thema wird uns noch Jahre beschäftigen. Der Druck auf der anderen Seite bleibt unverändert gross. Ältere Leute haben mir geraten es gebe eine Zeit für Engagement und eine Zeit, um sich zurück zu nehmen. Man kann immer im Kleinen versuchen etwas zu tun, oder sich dem Thema von einer anderen Seite nähern. So studiere ich nun Politikwissenschaft, mich interessiert wie man Strukturen ändern kann.
Normalität?
Heute haben wir vielleicht zu viele Bilder gesehen, und sie interessieren kaum noch. Obwohl es diesen Alltag weiter gibt von Flüchtlingen, immer und jeden Tag. Wir sind nicht mehr schockiert, auch wenn wir schockiert sein sollten. Das ist einfach nicht normal.
Aber mit Corona denken wir ohnehin noch viel mehr nur an uns selber. Nach meiner Erfahrung fragt heute niemand mehr. Hier in Bern, wo ich seit einiger Zeit lebe, habe ich allerdings schon den Eindruck, dass weiter viele Leute sich engagieren und dass das auch viel mehr im Alltag sichtbar wird als an andern Orten.
Ich selber beurteile die Menschen heute unterschiedlicher. Wir sollten nicht mehr nur «die MigrantInnen» sehen, sondern die Persönlichkeiten mit all ihren Fähigkeiten. Sonst pressen wir sie einmal mehr in eine generelle Kategorie. Dabei sind die Unterschiede doch das, was unter Menschen spannend und bereichernd ist.»
Die Europäische Flüchtlingskrise
Die Zahl der nach Europa eingereisten Asylbewerber hatte sich von 2014 fast verdoppelt auf über 1,3 Mio. Im Jahr 2015 und lag 2016 nochmals bei 1,26 Mio. Nach Verschärfungen des Asylrechts im Herbst 2015, der Errichtung von Grenzbarrieren auf der Balkanroute im März 2016 und dem EU-Türkei-Abkommen vom 18. März 2016 nahm die Zahl rasch ab und lag 2017 bei rund 650.000. Die Verwendung des Begriffs „Flüchtlingskrise“ in Ermangelung eines besseren problematisiert allerdings Migrationsbewegungen als bedrohlich oder einzigartig. Dabei sind diese aktuell nur ein Aspekt einer Reihe von Krisen, die mit der weltweiten Finanzkrise ab 2007 eingesetzt haben, gefolgt von der Niederschlagung des Arabischen Frühling nach 2011 oder dem Bürgerkrieg in Syrien und in Libyen. (Thomas Göttin)
Bern 29.12.2020
Zu den Bildern: im Jura, auf Sizilien (Febe Tognina rechts im Bild), am Strand von Sizilien und auf Lampedusa (Fotos zvg)