Skip to main content Skip to page footer

Ganz normale Leute

Raoul Ris ist seit einiger Zeit nicht nur Maler, sondern auch Galerist. Gerade so wie er sich das anlässlich der letzten Ausstellung ausgemalt hat: Sein Alter Ego Antonio Ruiz übernahm damals die Rolle des verschwundenen Malers, er jene des Galeristen. Raoul führt nun tatsächlich an der Postgasse, wo er seit zwanzig Jahren wohnt und malt, eine kleine Galerie. Ich sehe ihn durch die Fensterscheibe, wie er seine Bilder betrachtet.

Seine Musik- und Schriftsteller-Freund:innen sind mit ihren Werken in der Galerie ebenfalls präsent. Vielleicht fehlen deshalb im vorliegenden Buch für einmal ihre Gastbeiträge. Das wird durch eine vielfältige Auswahl von Bildern wettgemacht: Werke der aktuellen Ausstellung sowie Papierbilder und Ausstellungsplakate aus den vergangenen zwanzig Jahren.

Leichtigkeit spiegelt sich im Titel von Buch und Ausstellung: la peau de l’eau. Die Haut des Wassers. Diese Haut ist nicht nur die feine Membran von Wassermolekülen, die allein durch Kohäsionskraft zusammen gehalten werden. Sie zeigt sich auch in scheinbar unberührten, spiegelglatten Seen, in sprudelnden Bächen oder den Wellen und der Gischt einer wilden Meeresoberfläche. Raoul hat die Gabe, unbeschwert Sprachbilder zu kreieren, obwohl oder vielleicht gerade weil er kaum französisch spricht. Bezugspunkt ist immer wieder Vingrau, der kleine Ort in Südfrankreich mit vielen Freundinnen und Freunden, mit Licht und Meer, mit Wein, aber auch geprägt von Flucht und Ausgrenzung. Unweit von Vingrau liegt das Camp de France, das ehemals grösste Internierungslager Frankreichs. Gleich dahinter der Strand von Torreilles, oft Gegenstand von Raouls Bildern.

Zuletzt scheint für ihn, mit Corona, Klimakrise oder Russlands Krieg gegen die Ukraine, der gesellschaftliche Zusammenhalt zu schwinden: die Kohäsionskraft der Moleküle nimmt ab, die peau de l’eau droht zu reissen, das Wasserglas zu überlaufen. Dieser Unsicherheit setzt Raoul - selbstbewusst oder beschwörend – die Kraft seiner Bilder aus dem normalen Alltag von normalen Menschen gegenüber.  Raoul malt täglich, oder besser jede Nacht, auf Leinwand oder grossen Papierbögen: Bilder, Studien, Skizzen, Ideen mit einer unglaublichen Vielfalt an Motiven. Dabei setzt er sich immer auch mit politischen und gesellschaftlichen Inhalten auseinander. Bilder, Skizzen und Ausstellungsplakate ergeben ein veritables Kaleidoskop unserer Gesellschaft seit der Jahrtausendwende. Gibt es bei aller Vielfalt ein übergreifendes Thema, eine inhaltliche Klammer, welche die Bilder und die ihnen zugrunde liegende Sicht auf die Gesellschaft zusammenhält?

Nur Mittelmass kann die Welt vor dem Klimakollaps retten, wirft mir Raoul bei einem Glas Wein an den Kopf. Gewiss, das Geniale wächst den Menschen über den Kopf und gebiert Monster. Bei der künstlichen Intelligenz können wir gerade zusehen wie das geschieht. Der Widerstand dagegen war schon Thema von Raoul, als er dem tausendfach reproduzierbaren virtuellen Überwachungsprogramm Mr. Smith aus dem Film Matrix eine einzige von Hand gemalte Ehefrau Mrs. Smith zu Seite stellte (so, 2013). Ich meine: Nicht Mittelmass, sondern diese ganz normale Mrs. Smith ist unsere Hoffnung.

Raoul hat sich gegen die Malerei als Selbstdarstellung der Eliten gestellt, nicht zuletzt mit seinen Portraits und Nacktbildern (le terrain vague de l’âme, 2019). Diese Bilder zeugen von Vielfalt und dem Stolz der Menschen in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Ich verstehe sie als Stellungnahme zugunsten von ganz normalen Menschen - und damit politisch für eine Gesellschaft von Gleichgestellten. Der Soziologe Michael Young, der mit „Der Aufstieg der Meritokratie“ 1958 den Begriff „Meritokratie“ überhaupt erst erfunden hat, schrieb sein Buch als Satire und als Warnung vor einer neuen Elite. Die bittere Ironie dabei, wie er 1994 schrieb: Als Satire hatte das niemand verstanden, im Gegenteil, denn Menschen mit Macht und Privilegien waren noch so gern bereit zu glauben, dass in Zukunft die Gesellschaft von einer Elite von besonders verdienstvollen und talentierten Menschen – natürlich wie sie selbst - regiert wird, statt von allen Menschen gemeinsam. Der schwedische Ministerpräsident Olof Palme sah dadurch gar die Demokratie bedroht: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan. Politik ist zugänglich, ist beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“

Die Kraft und das Engagement von normalen Menschen sind heute in der Ukraine oder im Iran erlebbar, bei der jungen Generation im Klimastreik, überhaupt in vielen Teilen der Welt. Von Mittelmass und Gemütlichkeit keine Spur, vielmehr zeigen sich Wertvorstellungen und ein beeindruckender Glauben an die gemeinsame Zukunft der Gesellschaft. Dabei geht es nicht ohne Widersprüche: Die Dinge ändern sich, die Begriffe auch, und wir Menschen ändern uns ebenso. Uns für diese Veränderungen und Widersprüche die Augen öffnen, das kann Malerei oder Dichtung. Oder wie es der junge Schriftsteller Mesut Bayraktar kürzlich in Bezug auf Bertolt Brecht formuliert hat: „Rettung liegt darin, dass nichts mit sich identisch ist, allen voran der Mensch nicht.“ Die Gesellschaft ist auf Vielfalt angewiesen. Privilegierte Menschen fühlen sich allzu oft nicht nur besonders talentiert, sondern gleichzeitig mit sich und ihresgleichen identisch – und Mittelmass ist die Folge. Daraus erwachsen keine Lösungen. Es wachsen die ungelösten Probleme.

Raoul nimmt für die Arbeit an diesen Widersprüchen sein erfundenes Alter Ego zu Hilfe, Antonio Ruiz, mit dem er sich mehrmals auseinandergesetzt hat (Besuch am See, 2022, suche Antonio, 2014): „Er ist das Du per se“. Ohne Du auf Augenhöhe keine Gesellschaft. Und wenn uns das Engagement von normalen Menschen zwischendurch nicht ganz geheuer vorkommt, so liegt es vielleicht – wie Raoul es formuliert hat - an dem damit verbundenen Ausdruck der Unheimlichkeit der Zuneigung zur Welt.

 

Thomas Göttin, 9. Juni 2023