Eine Zeitreise von 700 Jahren in den Berner Untergrund
Der Lenbrunnen, das älteste erhaltene Bauwerk der Stadt Bern, liegt im soussol der Staatskanzlei verborgen.
Der Zugang führt zu Bürozeiten durch den Haupteingang der Staatskanzlei. Man öffnet weiter eine unscheinbare weisse Tür, drückt den Zeitschalter für das Treppenlicht und steigt sieben Meter und siebenhundert Jahre in die Tiefe. Hier angekommen, zieht man an einem von Museumsfachleuten aus dem 21. Jahrhundert montierten Kabel, das von der Decke hängt, und schon ist der um 1250 als Wasserturm erbaute Sodbrunnen erleuchtet. Die unterste Kammer wurde mit einem Grundriss von 7x7 Metern vier Meter tief in den wassertragenden kiesigen Untergrund gegraben, sodass sie sich von selbst mit Wasser füllte. Darüber erhoben sich zwei weitere Etagen, eine für die Vorrichtung zum Wasserheben, eine Etage vermutlich für Wache oder Personal. Bis auf eine Höhe von 7 Metern sind die Mauern noch erhalten. Der Lenbrunnen ist damit das älteste erhaltene Bauwerk in der Stadt Bern. Damals am äussersten Rand der Stadt gelegen, fasste er rund 15'000 Liter, womit er im 13. Jahrhundert bei einem täglichen Bedarf der Einwohner von 3-5 Litern die rund 3000 Personen zählende Bevölkerung mit Wasser versorgen konnte.
Der Lenbrunnen wurde erst 1992 wiederentdeckt und in den folgenden Jahren freigelegt. Mein erster Besuch vor Jahren war Teil einer längeren Rathaus-Führung durch eine frühere Hauswartin der Staatskanzlei. Ihre Zurückhaltung kontrastierte stark mit meiner Begeisterung für dieses mir unbekannte mittelalterliche Gemäuer. Es zeigte sich: der im 19. Jahrhundert als Kellergewölbe ausgebaute Brunnenturm gehörten jahrelang zu ihrer Hauswartwohnung. Darin hatte die Familie den privaten Weinkeller und bei passenden Gelegenheiten eine Disco für ihre Kinder eingerichtet. Bis zu dem Tag, als plötzlich fremde Leute im Keller standen und diesen wieder als Sodbrunnen und einzigartiges historisches Gebäude erkannten.
Der Lenbrunnen ist weiterhin ein Geheimtipp. Ein Lob gebührt der Staatskanzlei, welche den Zugang während den Büro-Öffnungszeiten ermöglicht: das ist echte Bürger*innen-Nähe. Und es erinnert mich daran, dass nebenan das Rathaus der Stadt Bern steht. Die unvergleichliche Rathaushalle, erbaut zu Beginn des 15. Jahrhunderts, vermochte wohl - ähnlich wie der Lenbrunnen alle Bewohner*innen mit Wasser versorgte - alle (männlichen) Einwohner der Stadt aufzunehmen. Diese Halle wünsche ich mir seit Jahren auf einfache Weise öffentlich zugänglich. Aber das ist eine andere Geschichte.
Schon wenige Jahrzehnte nach dem Bau des Wasserturms entstanden rundherum weitere Häuser, sodass der Kiesschicht im Untergrund allmählich das Wasser abgegraben wurde. Nach dem Hitzesommer 1395 reichte der Sodbrunnen definitiv nicht mehr für die Versorgung der Stadtbevölkerung, und mit neuen, hölzernen Rohrleitungen wurde Wasser auch von ausserhalb herbeigeführt (Link Journal B). 1585 gelang es dann erstmals, mit einem mechanischen Pumpwerk Wasser aus tieferen Quellen in die Stadt zu leiten. Was mich wiederum an das noch bestehende mittelalterliche und ebenfalls wasserbetriebene Hammerwerk in Worblaufen erinnert. Doch das sind weitere Geschichten. Denn längst ist es Zeit, den Lenbrunnen zu verlassen und den Aufstieg in die Staatskanzlei in Angriff zu nehmen. In dem Moment, wo ich wieder am Kabel ziehe, um die Beleuchtung des Wasserturms auszuschalten, wird es schlagartig dunkel. Der Zeitschalter beim Eingang hatte das Licht längst ausgeschaltet. Ich taste mich im Dunkeln die Treppe hoch und frage mich einen kurzen Moment, in welchem Jahrhundert ich wohl oben ankommen werde. Aber ja, die siebenhundert Jahre überspringe ich problemlos und kann den Text auf dem Compi fertig stellen.
Thomas Göttin 18.12.2019