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Politik und Ratlosigkeit

 

Kurz bevor sich das Auftreten des Corona-Virus in der Schweiz jährt und mitten im zweiten Lockdown macht sich Ratlosigkeit breit. Das Virus will nicht verschwinden und verändert sich. Viele Menschen sind verunsichert: Zehntausende fordern «zero covid» und ebenso viele einen «Lockdown stop». Das deutet eher auf ein politisches Vakuum hin, als dass die Politik den goldenen Mittelweg gefunden hätte. Ein Grund dafür: Immer noch wird der Ausnahme-Zustand viel zu sehr ausschliesslich als Gesundheitskrise mit wirtschaftlichen Kollateralschäden behandelt.

«Das ist keine politische Krise,» war bis in den Bundesrat zu hören – aber was denn sonst: Angesichts des grössten Wirtschaftseinbruches seit den Weltkriegen, der Milliardenausgaben, den vielen Verstorbenen, den Menschen, die unter Nachwirkungen der Erkrankung selbst oder unter den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Massnahmen leiden? Angesichts der Angst und Verunsicherung, der globalen Dimension und der unbekannten Dauer der ganzen Krise? Das Virus mag sich irgendwann davonstehlen, die politischen und gesellschaftlichen Folgen werden uns noch Jahre beschäftigen. (Journal B berichtete: Die grosse Verunsicherung)

Dabei geht beispielsweise schnell vergessen, dass die gigantischen Unterstützungsprogramme der ersten Welle mindestens ebenso sehr wegen dem Börsencrash wie dem Virus ausgelöst wurden. Zweimal in einer Woche sanken die Börsen um 10 Prozent, der Ölpreis brach zusammen. Notenbanker und Regierungen machten sich daran, die Börsen zu stützen «whatever it takes». Präsident Trump verkündete in den USA den nationalen Notstand und in der Schweiz zimmerten hunderte Banker mit dem Finanzdepartement das erste 10-Milliarden-Kreditprogramm. Am Tag darauf kommentierte der Tagesanzeiger: «Die Regierungen haben es kapiert».

Später, mitten in der ersten Welle, hat sich die Task Force der Wissenschaft gebildet. Es ist keine vom Bundesrat gewählte Kommission, sie trägt keine Verantwortung, setzt sich selbst zusammen und ihre Mitglieder erhalten keine Entschädigung. Sie konzentriert sich in 7 von 10 Arbeitsgruppen auf – unbestritten zentrale – medizinische Fragen, und prägt so unsere Sicht der Krise. Man könnte sich durchaus eine gewählte, entlöhnte und breiter zusammen gesetzte Organisation vorstellen.

Jacqueline Fehr hat auf die Drogenpolitik der 90er Jahre hingewiesen, als die Schweiz ein komplexes Problem mit einem austarierten Kompromiss zwischen den politischen Lagern angepackt hatte: ein interdisziplinärer Ansatz mit vier Säulen, was auch heute bei der umfassenden Lösungssuche helfen könnte. Und doch brauchte es Jahre bis sich dieser Ansatz durchsetzte.

Überforderung

Vielleicht braucht es heute auch von Seiten der Regierung Eingeständnis der Ratlosigkeit. «Die Behörden lassen die Bevölkerung nicht allein.» Dieser Ausspruch von Bundesrätin Sommaruga in der ersten Welle erweist sich im Nachhinein als zweischneidig: Er impliziert, dass beim Bundesrat Wissen und Möglichkeiten vorhanden sind – angesichts der Dimension der Krise eine ziemliche Überforderung. Die Regierung sollte sich nicht in diese Rolle drängen lassen, mahnte alt Bundesrat Moritz Leuenberger: « Wenn sie in einer Frage nichts ausrichten kann oder vor einem Dilemma steht, muss sie das offen legen. Sonst flüchtet sie in moralische Beschwörungen, die die Bevölkerung erst recht ratlos zurücklassen». Für das Vertrauen hilft eingestandene Ratlosigkeit mehr als scheinbare Überzeugung. Denn das bildet die Basis für ein gemeinsames Lernen und damit die inhaltliche Grundlage für ein umfassend politisches Verständnis der Krise. 

Politische Blockade

Ohne ein solches Verständnis lässt sich schwerlich eine politische Antwort finden, welche das Vertrauen der Bevölkerung stärkt, dass «die da oben» es wirklich begriffen haben. Daniel Binswanger hat zudem in der Republik daraufhin gewiesen, dass die Schweiz kein Förderalismus- sondern ein Konkordanz-Problem habe: die politischen Kräfte sind sich in den Grundsätzen nicht einig. Die rechtsbürgerlichen Parteien sind skeptisch bei Verschärfungen und gegen mehr Ausgaben. Die Linken fordern schärfere Massnahmen mit Kompensation. Während im ersten Lockdown «dank» der Gleichzeitigkeit mit dem Börsencrash riesige Finanzmittel zur Verfügung standen, wurden die Entlastungsmassnahmen über den Sommer laufend reduziert und darauf nur zögernd wieder aufgestockt. Nun rächt sich, dass im Bundesrat die FDP und damit das rechtsbürgerliche Spektrum übervertreten ist und die Grünen nicht eingebunden sind. Zu  aller Unsicherheit fehlt damit auch die politische Basis für ein umfassendes Corona-Programm auf Ebene der Regierung fehlt.

Mehr als eine Krise

Darüber hinaus ist auch die Frage nach dem Verhältnis dieser Krise zur Klima- oder Flüchtlingskrise oder dem Verlust der Artenvielfalt, bisher von der Politik nicht beantwortet. Zudem zeigt der Umgang mit dem Virus weitere dramatische Folgen: Die Demokratie wird in vielen Ländern eingeschränkt – 84 Länder waren 2020 davon betroffen laut der Uni Göteborg -   und die Ungleichheit nimmt zu:  Eine halbe Milliarde Jobs sind weltweit verloren gegangen und hunderte Millionen Kinder gehen nicht mehr in die Schule, während der Reichtum der Reichsten gestiegen ist. Selbst die NZZ hat gerade entdeckt, dass sich die Ungleichheit verschärft. Das legt erst recht nahe, den Ausnahme-Zustand als politische Krise zu betrachten. Denn ohne dass die Reichen und die Gewinner der Krise massiv mehr beitragen als bisher, ist eine Überwindung nicht möglich. Ganz abgesehen davon, was Überwindung bedeutet: Zurück zur vorherigen Normalität? Dort sind jedenfalls die Börsen, nämlich bei neuen Rekorden. Oder zu einer neuen Normalität, die noch niemand kennt? Das sind definitiv politische Fragen.

Thomas Göttin 7.2.2021

Text im Journal B